EditorialEs ist gut, dass die Ukraine auf dem Weg in die EU ist – aber ein böser Verdacht drängt sich trotzdem auf

Editorial / Es ist gut, dass die Ukraine auf dem Weg in die EU ist – aber ein böser Verdacht drängt sich trotzdem auf
Dieses Bild vom Treffen Macrons mit Selenskyj in Kiew ging um die Welt: Was flüstert der französische Präsident dem ukrainischen da gerade ins Ohr? Foto: AFP/Ludovic Marin

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Feierstimmung in Brüssel. Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs haben der Ukraine einstimmig den EU-Kandidatenstatus angeboten. Die Tür zur Europäischen Union steht der Ukraine jetzt einen Spaltbreit offen. Nur kann niemand voraussagen, wie groß die Ukraine sein wird, die vielleicht einmal hindurchschreiten wird. Russland besetzt, die Krim miteinbezogen, ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets. Und weil der Beitrittsprozess Ewigkeiten dauern wird, lässt sich nicht einmal ausschließen, dass irgendwann ein Land mit der Hauptstadt Lwiw der EU beitreten wird. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Moskau auch nur einen Acker, eine Straße oder einen Bach aus den bereits eingenommenen Gebieten freiwillig wieder hergeben wird. Dass es seine Invasion stoppen wird, ist auch nicht abzusehen. Russland ist in die Ukraine gekommen, um zu bleiben.

Zu pessimistisch? Hoffentlich. Aber es sieht gerade sehr schlecht aus für die Ukraine. Russland hat längst die Initiative zurückgewonnen, macht im Donbass täglich Gebietsgewinne und lässt die Ukrainer dort wortwörtlich ausbluten. Sogar Kiew räumt mittlerweile enorme Verluste ein. Dominierten zu Kriegsbeginn Videos von desertierenden oder gefangen genommenen russischen Soldaten die sozialen Netzwerke, sehen wir jetzt immer öfter ukrainische Kämpfer, die flehende Bitten per Video nach Kiew senden. Der Inhalt ist meist der gleiche: Schickt uns schwere Waffen oder holt uns raus aus dieser Hölle. Wer die Videos vom russischen Artilleriefeuer gesehen hat, die russischen Drohnenaufnahmen von so wehrlos ausgelieferten, in Schützengräben kauernden Ukrainern, die Handymitschnitte vom Häuserkampf in den verwüsteten Städten und Dörfern im Donbass, kann ihnen kaum widersprechen: Mehr Hölle geht kaum.

Aber was soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tun? Dieser Krieg fordert auch der Kiewer Führung brutale Entscheidungen ab. Schwere Waffen und vor allem Artilleriegeschütze, die weiter schießen als die russischen, würde Selenskyj sicher liebend gerne in den Donbass schicken. Das Problem ist, dass er keine hat und der Westen seinen Bitten um Lieferungen, wenn überhaupt, nur sehr zögerlich nachkommt. So zögerlich, dass es jetzt fast zu spät scheint, zumindest für den Donbass. 

Auch deshalb fällt es so schwer, sich eines bösen Verdachts zu erwehren: Statt der Ukraine mit voller Kraft gegen den Aggressor Russland zur Seite zu stehen, stellen wir ihr den EU-Beitritt in ferne Aussicht. Ist das der Deal, die jene, die Russland „nicht demütigen“ wollen (dixit Macron), Selenskyj bei ihren Reisen nach Kiew ans Herz legten? Das würde die in Brüssel als „historisch“ geadelte Entscheidung zum Trostpreis für die Ukraine werden lassen – und wäre eine Katastrophe, auch für die EU. Dieser Verdacht ließe sich zerstreuen. Nicht mit Twitter-Salven von Besuchen in Kiew und Versprechen für die Zeiten des Wiederaufbaus, sondern mit den von der Ukraine benötigten Waffen. Ohne diese wird Kiew keine Chance haben in diesem Krieg. Die EU-Beitrittsgespräche stören Putin nicht. Eine weiterhin schlagkräftige ukrainische Armee aber schon.

Im Westen wird die Katerstimmung immer spürbarer. Alles wird teurer. Sind Scholz, Macron und Draghi, aber auch Bettel und alle anderen gewillt, das durchzuhalten, über Monate, vielleicht Jahre? Ist das nicht der Fall, sollten sie es die Ukrainer wissen lassen. Halbherzige Versprechen einer vorgeblich bedingungslosen Unterstützung, die ihren Ausdruck dann in scherzhaften, weil von Ausnahmeregeln durchzogenen Sanktionspaketen und nicht gelieferten Waffen findet, verkürzen den Krieg nicht. 

Doch der russische Präsident Wladimir Putin übertölpelt die Europäer seit Jahren. Für billiges Gas lässt man einiges mit sich machen. Jetzt stehen wir vor einem unmöglichen Dilemma: Die Ukraine mit voller Kraft im Krieg unterstützen und damit die eigenen Staaten wirtschaftlich gefährden oder einen Deal mit Putin suchen und alle eigenen Werte über Bord werfen, ohne zu wissen, ob Moskau nicht auch dann noch weiter eskalieren würde. Auch das ist eine brutale Entscheidung. Aber sie muss getroffen werden, möglichst schnell und möglichst deutlich. Das Leben von Tausenden Ukrainern hängt daran.

JJ
25. Juni 2022 - 20.31

Der zukünftige Nobelpreisträger für Frieden.Wetten?
Nicht Macron,der andere!

JJ
25. Juni 2022 - 20.22

Le Pen hätte eher Putin umarmt. Das sollten die Franzosen nicht vergessen,jetzt wo sie ihren Präsidenten durch Abstinenz ins "Aus" manövriert haben. Die Rechte ist wählen gegangen.
Nur zu schade ,dass Méchantloup es nicht geschafft hat,weil Macron mit ihm nichts zu tun haben will. Es wird also eine Situation wie in Italien oder den USA unter Obama. " Comment voulez vous gouverner un pays qui a 400 sortes de fromages."( Ch.de Gaulle )

Jill
25. Juni 2022 - 11.34

Die Frage müsste lauten - Sind die EU Bürger bereit diese Unterstützung noch monatelang vielleicht jahrelang zu stemmen? Spätestens wenn in Deutschland (als grösster EU-Nettozahler) der Wirtschaftsmotor stottert, wird es kompliziert und nicht mehr vermittelbar. Dann wird es Zeit nationale Verantwortung zu übernehmen und das wissen Bettel & Co. auch.

pbremer
25. Juni 2022 - 11.18

Genau esou ass et. Hoffentlech realiséieren ons Politiker dat och, an zwar esou séier wéi méiglech.