ZeitgeschichteEin Tabu unter vielen: Historiografie der „Täterdebatte“ um das Reserve-Polizeibataillon 101

Zeitgeschichte / Ein Tabu unter vielen: Historiografie der „Täterdebatte“ um das Reserve-Polizeibataillon 101
Gruppenfoto der 14 Luxemburger Reservisten im Juni 1942 in Hamburg, kurz vor der Abfahrt des Reserve-Polizeibataillons 101 nach Polen Foto: Privatsammlung Paul Dostert

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Als Jean Heinen, ehemaliger Reservist des Reserve-Polizeibataillons 101 (RPB 101), 1996 zur Feder griff, wollte er dem Spuk um die Mitschuld von 14 luxemburgischen Reservisten am Holocaust ein Ende setzen. Waren diese Leserbriefe ein Tabubruch nach jahrzehntelangem Schweigen?

Heinen gab zu, während seiner Dienstzeit in Polen als stiller Beobachter bei „Judenaktionen“ anwesend gewesen zu sein. Er betonte jedoch, dass die Luxemburger nicht aktiv an den Morden beteiligt waren. Es war ein Versuch der „Reinwaschung“, der einen definitiven Schlussstrich unter eine schwierige Debatte ziehen sollte. Er bewirkte jedoch das genaue Gegenteil. Die Beiträge sorgten für heftige Reaktionen des Holocaustüberlebenden Gerd Klestadt, auf die Heinen mit der Androhung einer Verleumdungsklage reagierte.

Heinens Intervention war der Luxemburger Ausläufer der 1996 in Deutschland tobenden Goldhagen-Debatte. Der renommierte US-Historiker Christopher Browning hatte Daniel Goldhagens These eines „eliminatorischen Antisemitismus“, der den Deutschen innewohnte, am Beispiel der Luxemburger Reservisten infrage gestellt. In Luxemburg schlug der Historikerstreit – aufgrund der Berichterstattung in Spiegel und Zeit – hohe Wellen. Im Juni 1996 veröffentlichte der Historiker Lucien Blau im Tageblatt den Artikel „Ein Beispiel unbewältigter Geschichte“, in dem er die Problematik resümierte und die 1986 publizierten Zeitzeugenaussagen ehemaliger Mitglieder des RPB 101 (Roger Wietor und Heinen) analysierte.

Die Kontroverse veranlasste Heinen zur Stellungnahme bei RTL und im Luxemburger Wort. Auch der ehemalige Zwangsrekrutierte Jean Altmann stellte in der Zuschrift „Täter aus freien Stücken“ empört die Sachkenntnisse des Historikers infrage und hob die Spezifität Luxemburgs als „Opferland“ hervor. Brownings Feststellung, die Luxemburger seien Mittäter gewesen, wurde als „pauschal [und] ohne jegliche Beweise“ abqualifiziert.

Das Justizministerium kündigte jedoch Ermittlungen gegen die noch lebenden Reservisten an. Der Historiker Paul Cerf begrüßte die Initiative und bezichtigte Anfang 1998 im Lëtzebuerger Land Heinen und seine Kameraden der bewussten Falschaussage in der Presse und den Büchern der „Freiwëllegekompanie“. Auch die Ehrung ihrer Gefallenen als „Mort pour la patrie“ stellte er infrage. Sein Versuch, Einsicht in die Hamburger Prozessunterlagen zu erhalten, schlug jedoch fehl.

(In)direkte Beteiligung

Der Historiker Paul Dostert erhielt vom Justizministerium den Auftrag, zu einer persönlichen Mitschuld der 14 Reservisten an den Morden zu recherchieren. Seine Ergebnisse wurden 2000 in der Hémecht veröffentlicht. Dostert bewies zweifellos, dass „auch die Luxemburger (in)direkt [an den Morden] beteiligt waren.“ Obwohl seine Ergebnisse den Opfer- und Heldendiskurs infrage stellten, stieß die Arbeit auf wenig Resonanz. Die angestrebten strafrechtlichen Ermittlungen scheiterten aufgrund der Verjährung der Taten. Das Thema blieb explosiv. Einen Tabubruch erreichte man demnach nicht. 2002 wurden Historiker, die auf RTL das bestehende Heroenbild der Luxemburger anzweifelten, von Vertretern der „Enrôlés de force“ verbal und physisch angegriffen.

Für erneutes Interesse am RPB 101 sorgte erst der Ende 2017 von Mil Lorang im Tageblatt veröffentlichte Artikel „Wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teilnehmern am Judenmord wurden“. Darin kritisierte er die posthume Ehrung der gefallenen Reservisten als „Mort pour la patrie“ sowie die Tatsache, dass die Überlebenden im Nachkriegsluxemburg unbehelligt Karriere im Staatsdienst machen konnten. Angeregt von Lorangs Recherchen stellte der Historiker Denis Scuto im selben Jahr im Tageblatt unter dem auf Browning verweisenden Titel „Des hommes ordinaires“ am Beispiel der Polemik um das RPB 101 die anhaltende Politik des Schweigens in Luxemburg an den Pranger.

2018 schlussfolgerte Marc Trossen in „Ein Luxemburger im Polizei-Bataillon 101“ im vierten Band von „Verluere Joëren“, dass „eine Beteiligung der Luxemburger an der Erschießung von Juden nicht bewiesen ist und auch unwahrscheinlich scheint“.

Die Akte RPB 101 wurde jedoch Ende 2019 von Mil Lorang und dem „Musée national de la Résistance“ (MNR) wieder geöffnet. In „Luxemburg im Schatten der Shoah“ lieferte Lorang mit den Memoiren eines luxemburgischen Reservisten des RPB 101 neue Details über den Partizipations- und Kenntnisgrad der Luxemburger bei „Judenaktionen“. Das MNR seinerseits wies anhand einiger Fotos die Teilnahme mehrerer Luxemburger des RPB 101 an sogenannten „Judenjagden“ nach. Der Beitrag wurde in der woxx veröffentlicht und bestätigte schließlich, was schon länger nicht mehr ernsthaft zu bestreiten war. Die Ergebnisse erhielten ein hohes mediales Echo bei RTL, Radio 100,7 sowie etlichen Printmedien. Eine „verspätete“ Täterdebatte wurde angestoßen. Auch jetzt noch schlug den Autoren öffentliches Missverständnis und Wut entgegen. Verbale Attacken, hauptsächlich in den sozialen Medien, waren die Folge. Wie bereits bei Browning wurde ihnen vor allem fehlende Sachkenntnis und Kompetenz unterstellt. Ebenso wurden Vorwürfe erhoben, welche von „Nestbeschmutzung“ bis hin zur absurden Unterstellung einer Kollektivschuld gegen die Zwangsrekrutierten reichten.

Im Rundtischgespräch des „Musée national de la Résistance“ mit dem Titel „D’Lëtzebuerger am RPB 101“ Anfang März 2020 unterstrichen die beteiligten Historiker jedoch die Tatsache, dass sich die 14 Reservisten ohne Zweifel an allen „Aktionen“ des RPB 101 beteiligt hatten. Im Publikum stieß diese Schlussfolgerung auf allgemeine Zustimmung.

Die Frage, ob die Forschungsresultate der letzten Jahrzehnte nach dieser rezenten Debatte Einlass in das kollektive Gedächtnis finden und zu einem Tabubruch beitragen konnten, bleibt jedoch offen.

* Jérôme Courtoy studierte Geschichte an der Universität Luxemburg und der Universität des Saarlandes. Elisabeth Hoffmann promovierte an der Universität Luxemburg und der Université de Lorraine. Beide sind seit 2018 Historiker am „Musée national de la Résistance“ in Esch/Alzette.

Jérôme Courtoy
Jérôme Courtoy
Elisabeth Hoffmann
Elisabeth Hoffmann

Von Blücher
6. März 2021 - 11.37

Endlich, guter Artikel. Hinzufügen möchte ich , in der Nachkriegsgeschichte die Täter bewusst von den staatlichen Instanzen in Europa geschont wurden ,ihren Strafen entgingen und im Zuge des Kalten Krieges zu ehrenwerten Bürgern , Politiker, Wissenschaftler,Mediziner,...unserer Gesellschaft emporstiegen. Diese Geschichtsfälschung , die Rehabilitation , Nichtverurteilung der Täter ein Verbrechen an der Gerechtigkeit und es mutet schon heuchlerisch man noch heute einige Überlebende des Tötungssystems vor Gericht ziehen will.