Montag3. November 2025

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DeutschlandEin Machtwechsel birgt Risiken und Hürden

Deutschland / Ein Machtwechsel birgt Risiken und Hürden
Kanzler Olaf Scholz (M.) und die Staatssekretärin und mögliche nächste Grünen-Chefin Franziska Brantner hören Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner zu – wie lange noch? Foto: AFP/Tobias Schwarz

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Die Ampel steckt in der Dauerkrise und steht vor dem Bruch. Was die Akteure aus vergangenen Versuchen lernen können, mit Vertrauensfragen, Misstrauensvoten und Neuwahlen zu Kanzlerwechseln und neuen Mehrheiten zu kommen.

Die jüngsten Landtagswahlen haben die Fliehkräfte in der Ampelkoalition erneut gestärkt. Jeder Versuch von SPD, Grünen und FDP, einen neuen Weg einzuschlagen und diesen mit Vorsätzen eines Endes des Streitens zu pflastern, endete bislang im Gegenteil. Offenbar passen die drei Partner schon lange nicht mehr zusammen. Das manifestiert sich auch in konkreten Ausstiegsszenarien. Wenn FDP-Finanzminister Christian Lindner im September 2024 eine Wachstumsinitiative zum Testfall für den Fortbestand der Koalition macht, erinnert das fast wortgleich an den September 1982, als der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff Vorschläge zur Überwindung der Wachstumsschwäche vorlegte. Wenig später war die Koalition der Liberalen mit den Sozialdemokraten vorbei. Wird es auch jetzt wieder so kommen?

In der Berliner Politikblase werden viele Debatten vom Wunsch nach Wechsel geprägt. Tauschen wird halt die Koalition, wird schon irgendwie gehen. Oder: Machen wir halt Neuwahlen, wird schon klappen. Das Kalkül folgt dabei den vermeintlichen Vorteilen für sich selbst und die eigene Partei. Vorausgesetzt wird dabei zumeist, dass im Politikbetrieb der Wille der Parteien besonders mächtig ist, die Verfassung geschmeidig gehandhabt werden kann und der Bundespräsident ohnehin nichts zu sagen hat. Diese Sichtweise hält einem verfassungsrechtlichen und machtpolitischen Plausibilitäts-Check allerdings kaum stand. Und sie läuft auf ein gefährliches Spiel mit dem Grundgesetz und den Lehren aus einer furchtbaren Vergangenheit hinaus.

Andererseits ist da der verlockende Blick auf gelungene Manöver. 1972 hatte sich das sozialliberale Regierungsprojekt an der Frage der Ostpolitik aufgerieben, so viele Abgeordnete verloren, dass ein Regieren im Parlament angesichts eines Stimmenpatts nicht mehr möglich war. Kanzler Willy Brandt setzte auf Neuwahlen – und gewann diese mit großem Vorsprung. 1983 wollte Kanzler Helmut Kohl den Sturz von Helmut Schmidt im Herbst zuvor vom Wähler legitimieren lassen und für die neue schwarz-gelbe Regierung mehr Rückhalt – auch das gelang.

Merz kann nicht den Kohl machen

Das wird von aktuellen Akteuren reduziert auf die beiden naheliegenden Optionen: Man kann einen Kanzler stürzen, wenn dessen Zustimmung im Parlament bröckelt. Und man kommt problemlos zu Neuwahlen, wenn einem danach ist. Doch die Wege sind bei diesen beiden Optionen deutlich komplexer und riskanter als allgemein vermutet. Der damalige Oppositionsführer Rainer Barzel musste dies am 24. April 1972 erfahren, als er erstmals in der Nachkriegsgeschichte den Hebel des Konstruktiven Misstrauensvotums herausholte: Ein Kanzler ist damit automatisch abgelöst, wenn die Mehrheit der Abgeordneten dem amtierenden Regierungschef das Misstrauen ausspricht und zugleich einen Nachfolger wählt.

Barzel hatte sorgfältig gerechnet und war sich sicher, noch am selben Abend Bundeskanzler zu sein. Er schien die nötigen 249 Stimmen hinter sich zu haben. Doch es waren nur 247. Erst nach der Wende stellte sich heraus, dass die DDR ganz offensichtlich zwei Unionsabgeordnete bestochen hatte, um Brandts Ostpolitik zu retten. Zehn Jahre später gelang Helmut Kohl, woran Barzel scheiterte. Er hatte sich zuvor auf ein Bündnis mit der FDP verständigt.

Würde Oppositionsführer Friedrich Merz in diesem Herbst Barzel oder Kohl folgen? Tatsächlich käme er nicht einmal so weit wie Barzel. Denn im aktuellen Bundestag bräuchte er 367 Stimmen für die Kanzlermehrheit. Union und FDP bringen es auf 288, Union und Grüne auf 314. Nur alle drei zusammen oder eine große Koalition könnte Merz per Konstruktivem Misstrauensvotum ins Kanzleramt bringen. Dass solche Verhandlungen angesichts der Kräfteverhältnisse im Parlament auf die Schnelle gelingen könnten, zumal CSU-Chef Markus Söder nichts mit den Grünen zu tun haben will, ist nahezu ausgeschlossen.

Ampelparteien würden bei Neuwahlen verlieren

Bleiben theoretisch Neuwahlen. Dazu müsste Amtsinhaber Olaf Scholz eine Vertrauensfrage stellen und verlieren. Dann hätte der Bundespräsident die Entscheidung. Er kann Neuwahlen ausrufen, muss es aber nicht. Drei Amtsvorgänger von Frank-Walter Steinmeier haben das abgekartete Spiel durchgehen lassen, obwohl die Verfassung an dieser Stelle eine Bremse eingebaut hat, damit sich nicht wiederholt, was zur Zerstörung der Weimarer Republik entscheidend beitrug: Ohne vorgezogene Neuwahlen wären die Nazis noch 1930 eine 2,6-Prozent-Partei geblieben. Erst die zweimalige vorzeitige Auflösung des Reichstages ließ sie zunächst auf 18,6, dann 37,4 Prozent anschwellen. Gleichzeitig wuchsen auch die Kommunisten, machten Regierung und Parlament durch destruktives Zusammenspiel der radikalen Ränder manövrierunfähig.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen 1972 und 1983 kamen die Ergebnisse in die Nähe der Umfragen, stärkten die demokratische Mitte. 2005 legten NPD (plus 1,1 Prozent) und PDS (plus 4,7 Prozent) an den Rändern bereits zu. Derzeit könnten AfD und BSW ebenfalls mit großen Stimmenzuwächsen rechnen (zusammen in aktuellen Umfragen plus 15 Prozentpunkte). Das riecht schon deutlich mehr nach Weimar und dürfte den Bundespräsidenten ermuntern, mehrfach zu schauen, ob da nicht doch eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament ist. Zudem stünden die Ampelparteien vor der Alternative, weiter zu regieren und auf bessere Zeiten zu hoffen, oder aber krachend zu verlieren, wenn sie den Weg zu Neuwahlen frei machen: SPD minus neun Prozentpunkte, Grüne minus fünf, FDP minus sieben und raus aus Regierung und Parlament. Welcher Ampelabgeordnete sollte den Weg zu Neuwahlen bei diesen Perspektiven für attraktiv halten?

Fünf Manöver während laufender Wahlperioden

24. April 1972: CDU/CSU-Oppositionsführer Rainer Barzel scheitert mit dem Versuch, SPD-Kanzler Willy Brandt per Konstruktivem Misstrauensvotum abzulösen.
22. September 1972: SPD-Kanzler Willy Brandt führt per Vertrauensfrage Neuwahlen herbei, die er bei Rekordbeteiligung klar gewinnt.
1. Oktober 1982: CDU/CSU-Oppositionsführer Helmut Kohl gelingt die Ablösung von SPD-Kanzler Helmut Schmidt durch Konstruktives Misstrauensvotum.
17. Dezember 1982: CDU-Kanzler Helmut Kohl verliert die Vertrauensfrage und gewinnt daraufhin die damit ausgelösten Neuwahlen.
1. Juli 2005: SPD-Kanzler Gerhard Schröder verliert die Vertrauensfrage. Bei den folgenden Neuwahlen gewinnen Union und FDP, Angela Merkel wird Kanzlerin.