Freitag31. Oktober 2025

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Novi SadEin Jahr nach der Trümmerkatastrophe: Diskreditierte Machthaber kämpfen um Kontrolle

Novi Sad / Ein Jahr nach der Trümmerkatastrophe: Diskreditierte Machthaber kämpfen um Kontrolle
Opfer der Korruption – und einer vermeidbaren Katastrophe: Gedenktafeln für die Todesopfer vor dem Bahnhof von Novi Sad Fotos: Thomas Roser

Die 16 Toten beim Einsturz des Vordachs im neu renovierten Bahnhof von Novi Sad vor Jahresfrist haben in Serbien eine Protestwelle gegen die Korruption ausgelöst. Die diskreditierten und unter Druck geratenen Machthaber versuchen, sich mit verschärfter Repression gegen ihre Kritiker im Sattel zu halten.

Unkraut wuchert zwischen Betonplatten. Eine Kerze flackert unter den Gedenktafeln für die Todesopfer. Die Uhr auf der Fassade ist stehen geblieben. In dem erst im Juli 2024 neu eröffneten Geisterbahnhof im serbischen Novi Sad halten keine Züge mehr.

Merkwürdig nach unten gebogene Baustahlstränge künden von der vermeidbaren Katastrophe, deren Folgen den Balkanstaat bis heute erschüttern. Um 11.52 Uhr stürzte am Mittag des 1. November 2024 das 48 Meter lange Betonvordach des gerade erst überholten Bahnhofs ein: Unter den Trümmern sollten 16 Menschen ihr Leben verlieren.

Tränen rinnen Dijana Hrka über die Wangen, während sie in Belgrad über den Tag erzählt, an dem für sie „alles zusammenbrach“. Erst am Abend zuvor hatte sie noch mit ihrem 27-jährigen Sohn Stefan in Novi Sad telefoniert: „Wir scherzten noch, wer wen als Nächstes mit einem Besuch überraschen werde.“

Bereits als sie die Nachricht von der Katastrophe vernahm, hatte die 47-Jährige „ein schlechtes Gefühl“, denn der Sohn hatte erzählt, am Bahnhof auf seine Freundin warten zu wollen. Das verzweifelt angewählte Telefon von Stefan blieb stumm. In Novi Sad wurden ihr zur Identifizierung die Überreste ihres Sohnes gezeigt. Die Augen seien aus den Höhlen gesprungen, der Hals gebrochen gewesen: „Ich begann zu schreien, als ich Stefan sah. Ich zitterte und verlor jedes Gefühl.“

Dijana Hrka macht die Korruption und Serbiens Präsidenten für den Tod ihres Sohnes Stefan verantwortlich
Dijana Hrka macht die Korruption und Serbiens Präsidenten für den Tod ihres Sohnes Stefan verantwortlich

Das Vordach sei „nicht von allein eingestürzt, sondern wegen der Korruption, die tötet“, ist Dijana überzeugt. Doch statt die Verantwortlichen zu belangen, lasse Serbiens Präsident Aleksandar Vucic „Studenten verhaften und verprügeln“: „Das ist sein System, er hält hier alle Zügel in der Hand. Solange nicht alle Verantwortlichen angeklagt und verurteilt sind, ist für mich der Präsident schuldig. Letztendlich hat er mein Kind getötet.“

Das EU-Angebot der Finanzierung einer Schnellbahntrasse mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h an die ungarische Grenze hatte Serbien 2015 abgelehnt. Stattdessen entschied sich Belgrad für die Offerte für eine viermal so teure 200-Stundenkilometer-Trasse eines chinesischen Konsortiums. Der Deal: Der Großteil der Aufträge, auch zur Überholung der Bahnhöfe, sollte an Unternehmen aus dem Dunstkreis der Regierung gehen.

Ohne öffentliche Ausschreibung und EU-Aufsicht lassen sich Kosten leichter erhöhen – und Bauvorschriften negieren. Der Einsturz des Vordachs sei das Resultat der Aktionen „einer organisierten kriminellen Gruppe“ gewesen, so der Bericht einer Untersuchungskommission unabhängiger Ingenieure und Juristen: Es bestehe der Verdacht, dass der Präsident an der „Spitze dieser Gruppe steht“.

„Eure Hände sind blutig“, lautete die Botschaft der Protestplakate, mit denen nach der Katastrophe immer mehr Studenten im ganzen Land gegen die Korruption auf die Straße zogen. Der Button mit der blutroten Hand ziert auch das Taschenband des Jura-Studenten Luka Stevanovic in Kragujevac.

Mahnwachen und Protestmärsche

In einem Land, wo „nur das Parteibuch zählt“, seien die offenbarten Abgründe keineswegs überraschend gewesen, erinnert sich der 22-Jährige an den Beginn der Proteste. Doch nach Jahren endloser Skandale habe die Katastrophe das Fass des Unmuts zum Überlaufen gebracht: „Die 16 Toten waren einfach zu viel.“

Mitten im Winter begannen die Studenten, in tagelangen Sternmärschen durch Serbien zu ziehen, um auch die Bevölkerung in der Provinz für ihren Kampf für rechtsstaatliche Verhältnisse und gegen Machtwillkür zu mobilisieren. Im Frühjahr sollten nach Straßburg und Brüssel radelnde Studenten auch Europas Öffentlichkeit für die triste Lage in ihrer Heimat sensibilisieren.

Mehrmals verhaftet und mit Mord bedroht: Der Belgrader Politologie-Student Pavle Cicvaric (24) klagt über zunehmende Repression
Mehrmals verhaftet und mit Mord bedroht: Der Belgrader Politologie-Student Pavle Cicvaric (24) klagt über zunehmende Repression

„Die Solidarität der Leute, die wir auf den Märschen erfuhren, war unglaublich“, sagt Luka. Wie Befreier wurden die Studenten selbst in Dörfern bejubelt, in denen nur regierungsnahe TV-Sender zu empfangen sind: „Wir durchbrachen das Mediendunkel, nahmen den Leuten die Angst, sich zu wehren.“

Die Studenten hätten sie „ins Leben zurückgeholt“, sagt Dijana Hrka. Ob in Interviews oder bei Demonstrationen: Unablässig fordert sie die Aufklärung der Umstände des Todes ihres Sohnes ein. Doch handfeste Todesdrohungen ließen Hrka von Mai bis Juli zeitweise im nahen Kroatien abtauchen: „Ich wollte, dass sich die Dinge beruhigen. Aber ich wurde auch dort von Landsleuten bedroht.“

Ob mit in Mahnwachen rasenden Autos oder von der Partei in Marsch gesetzten Provokateuren und Auftragsschlägern: Von Anfang an habe das Regime „mit Gewalt“ auf die Proteste reagiert, sagt in Belgrad der Politologie-Student Pavle Cicvaric. Ende Juni seien die Repressionen „noch spürbar verschärft“ worden. Ob Demonstranten krankenhausreif geprügelt worden seien oder einer Studienkollegin von einem Polizeikommandanten gar die Vergewaltigung angedroht worden sei, „wir sind nirgendwo mehr sicher“: „Es ist kaum mehr nachzuhalten, wer verhaftet worden ist, im Gefängnis oder im Hausarrest sitzt.“

Von langer Hand vorbereitete Justizattacken

Der 24-Jährige weiß, wovon er spricht. Dreimal wurde er bereits verhaftet, von einem Anhänger der regierenden SNS selbst mit einem Messer bedroht. Im September schwadronierte das SNS-Vorstandsmitglied Sinisa Vucinic im regierungsnahen „Informer-TV“ gar über die angeblich von Oppositionskreisen geplante Ermordung von Cicvaric, um neue Proteste auszulösen.

Er wisse nicht, ob der Politiker seinen Namen „fünfmal zufällig“ in Zusammenhang mit einem Mord genannt habe oder tatsächlich „etwas ankündigen wollte“, sagt Pavle: „Ich fühle mich bedroht. Aber das Regime täuscht sich, wenn es denkt, die Leute einschüchtern zu können. Jeder seiner Gewaltexzesse härtet ab – und bringt stets mehr Menschen auf die Straße.“

Drei Monate lang im Hausarrest: Der Jura-Student Luka Stevanovic (22) im serbischen Kragujevac
Drei Monate lang im Hausarrest: Der Jura-Student Luka Stevanovic (22) im serbischen Kragujevac

Nach der Belgrader Großdemonstration Ende Juni sollte auch Luka zum Opfer einer von langer Hand vorbereiteten Justizattacke werden. An einer Bushaltestelle verhaftet, wurde er auf der Polizeiwache mit vierhundert Seiten abgehörter Telefongespräche konfrontiert. Der von der Staatsanwaltschaft erhobene Vorwurf: Er soll sich des „Terrorismus“ samt Sturzes der verfassungsrechtlichen Ordnung schuldig gemacht haben.

Eine Woche saß der Student im Belgrader Zentralgefängnis ein. Drei Monate lang schmorte er hernach im Hausarrest im heimischen Kragujevac: Nur dem unentgeltlichen Einsatz seiner Anwälte hat er es zu verdanken, dass er den Ausgang des Ermittlungsverfahrens seit Mitte Oktober zumindest in Freiheit abwarten kann. Die Abhörung seines Telefons und seine Überwachung seien bereits Anfang Januar angeordnet worden, berichtet Luka: „Das Gefühl, monatelang auf Schritt und Tritt aktiv verfolgt und fotografiert worden zu sein, ist einfach gruselig. Man beginnt, an der eigenen Sicherheit zu zweifeln.“

In unserem gekaperten Staat hat eine Bande von Kriminellen das Sagen. Anständige Leute können kein normales Leben führen.

Milomir Jacimovic, Busunternehmer

Die Aufschrift „Studenten“ prangt unter der roten Protesthand auf den am Ortsausgang von Djurdjevo abgestellten Autobussen. Er sehe älter aus als er sei, weil er „seit Monaten nicht mehr schlafen“ könne, seufzt in dem Dorf östlich von Novi Sad der 49-jährige Busunternehmer Milomir Jacimovic. 32.000 Euro habe er in den letzten Monaten allein zur Reparatur der von Unbekannten eingeschlagenen Windschutzscheiben seiner Busse berappen müssen.

Staatliche Gewalt gegen Busunternehmer

Tagsüber werde er von der Polizei oder Inspektoren, nachts von den Auftragsrabauken der Partei heimgesucht, berichtet der bereits mehrfach verhaftete Familienvater: „In unserem gekaperten Staat hat eine Bande von Kriminellen das Sagen. Anständige Leute können kein normales Leben führen.“

Zweimal war Jacimovic im letzten Jahr von der SNS zu Fahrten ihrer Anhänger genötigt worden. Die Probleme des Busunternehmers begannen, als er aus Solidarität mit den Protesten der Regierungspartei seine Fuhrdienste versagte – und stattdessen gratis Studenten zu den Demonstrationen oder von ihren Sternwanderungen zurück nach Hause karrte.

Fast in den Selbstmord aus Verzweiflung getrieben: Der Busunternehmer Miromir Jacimovic (49) im serbischen Dorf Djurdjevo wird wegen des Transports protestierender Studenten schikaniert
Fast in den Selbstmord aus Verzweiflung getrieben: Der Busunternehmer Miromir Jacimovic (49) im serbischen Dorf Djurdjevo wird wegen des Transports protestierender Studenten schikaniert

Ob eingeschlagene Scheiben oder zerstochene Reifen: „Du kannst nicht 24 Stunden neben deinen Bussen stehen“, erklärt er die wiederholte Verwüstung seines Fuhrparks: „Wenn nachts niemand kommt, lauert mir tagsüber die Polizei auf, überzieht mich mit Strafen oder konfisziert die Kennzeichen.“

Von den Schikanen ließ sich Jacimovic zunächst nicht beeindrucken. Doch als Anfang Juli sein minderjähriger Sohn erneut verhaftet wurde, alle seine Busse zerstört und deren Kennzeichen konfisziert worden waren, entschloss er sich zu einem radikalen Schritt. „Ich hatte weniger als drei Euro in der Tasche. Ich war ein toter Mann. Ich dachte, besser ich töte mich selbst, als dass sie mich töten.“

Falls die Machthaber diesen Kampf gewinnen sollten, fürchte ich, dass uns ein weißrussisches Szenario erwartet. Falls wir gewinnen, werden wir zumindest die Chance erhalten, demokratische Verhältnisse zu schaffen. Ob das gelingt, hängt von uns ab.

Pavle Cicvaric, Politologie-Student

Sein Versuch, sich vor der Parteizentrale der SNS in Novi Sad selbst zu verbrennen, wurde von der Polizei vereitelt. Danach begannen Serben in aller Welt, Geld für neue Autobusse für den lebensmüden Busunternehmer zu sammeln – 350.000 Euro und 90.000 Dollar.

Morddrohungen schrecken Dijana Hrka nicht mehr

„Ich komme aus armen Verhältnissen, ich hatte noch nie etwas geschenkt bekommen“, sagt Jacimovic mit tränenerstickter Stimme: „Die Reaktion der Leute war unglaublich. Dieses Gefühl, dass man nicht allein ist, dass einem in der Not geholfen wird, ist unbeschreiblich.“

Zum Jahrestag am 1. November werden die Busse von Jacimovic wieder Studenten zur Großdemonstration nach Novi Sad kutschieren. Die EU reagiere „leider sehr mild“ auf die Missstände, sagt er verbittert: „Doch wenn sich hier nichts ändert, können wir alle die Koffer packen – und in der EU Asyl suchen.“

In die Ecke getriebene Tiere seien immer „am aggressivsten“, rechnet Jura-Student Luka zwar mit noch stärkeren Repressalien: „Aber unser Aufstand wird Erfolg haben. Es ist eine Frage von Wochen und Monaten, aber nicht mehr von Jahren, wie lange sich dieses Regime noch halten kann.“

Es geht um „wir oder sie“, sagt Pavle Cicvaric: „Falls die Machthaber diesen Kampf gewinnen sollten, fürchte ich, dass uns ein weißrussisches Szenario erwartet. Falls wir gewinnen, werden wir zumindest die Chance erhalten, demokratische Verhältnisse zu schaffen. Ob das gelingt, hängt von uns ab.“

Nach Serben zurückgekehrt, will sich Dijana Hrka auch durch Morddrohungen nicht mehr schrecken lassen: „Mein Schmerz ist stärker als alles. Wenn sie mich töten wollen, sollen sie das tun. Aber ich werde bis zuletzt um Gerechtigkeit für mein Kind und die anderen Opfer kämpfen.“