ForumDie Vertreter der Idee von der vorübergehenden Inflation hatten recht

Forum / Die Vertreter der Idee von der vorübergehenden Inflation hatten recht
 Foto: dpa/Monika Skolimowska

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Mit dem weltweiten Abklingen der Pandemie schoss die Inflation in die Höhe. Das lag an weitreichenden Verwerfungen in den globalen Lieferketten und plötzlichen Veränderungen bei den Nachfragemustern. Diese Nachfrageverschiebungen hätten selbst zu besten Zeiten eine Herausforderung für die Preisstabilität dargestellt, doch der Zusammenbruch der Lieferketten verschlimmerte die Lage. Der Markt konnte nicht sofort auf die neuen Nachfragemuster reagieren; daher stiegen die Preise.

Erinnern wir uns, dass wir anfänglich eine Verknappung des Angebots an Autos erlebten. Das lag schlicht an einem Mangel an Computerchips – ein Problem, das zu beheben 18 Monate dauerte. Das Problem war nicht, dass wir vergessen hatten, wie man Autos produziert, oder dass es an ausgebildeten Arbeitern und Fabriken mangelte. Uns fehlte einfach ein zentrales Bauteil. Sobald dieses geliefert wurde, wuchsen die Autobestände und die Preise sanken; es kam zur Desinflation. (Der Begriff „Desinflation“ bezeichnet einen Rückgang der Inflationsrate – nicht unbedingt des tatsächlichen Preisniveaus – und ist das, was für die Notenbanken bei der Überwachung von Preisänderungen maßgeblich ist. In diesem und einigen anderen Fällen sanken die Preise allerdings tatsächlich.)

Ein weiteres Beispiel für dieses vorübergehende, selbstkorrigierende Phänomen ist der Wohnungsmarkt. Da die Bevölkerungsgröße eine wichtige Determinante für die Nachfrage ist, hätte der durch das Missmanagement der Pandemie unter Donald Trump bedingte Tod von einer Million Amerikanern die Wohnungspreise insgesamt eigentlich senken müssen. Doch zog es die Menschen angesichts der Pandemie aufs Land. Großstädte wie New York erschienen weniger attraktiv als Orte wie Southampton und das Hudson Valley.

Das Angebot an Wohnraum an derartigen Orten kurzfristig zu erhöhen, ist nicht einfach; daher stiegen die Preise entsprechend. Doch aufgrund bekannter Asymmetrien bei der Preisanpassung an sich ändernde Marktbedingungen fielen sie in den Städten nicht in entsprechendem Umfang. Daher stiegen die Wohnungspreisindizes (die den Durchschnitt erfassen). Nun, angesichts der nachlassenden Auswirkungen der Pandemie, sinken die Preise (gemessen an diesen Indizes) wieder, aber nur allmählich, was die Tatsache widerspiegelt, dass die meisten Mietverträge eine Laufzeit von mindestens einem Jahr haben.

Welche Rolle hat hierbei die US-Notenbank gespielt? Da ihre Zinserhöhungen nicht dazu beitrugen, den Chipmangel zu beheben, kann sie sich keinen Verdienst an der Desinflation der Autopreise zuschreiben. Schlimmer noch: Wahrscheinlich haben die Zinserhöhungen die Desinflation bei den Wohnungspreisen sogar verlangsamt. Nicht nur, dass deutlich höhere Zinsen die Bautätigkeit hemmen; sie verteuern auch die Hypotheken, sodass mehr Menschen gezwungen sind, zu mieten statt zu kaufen. Und wenn mehr Menschen auf den Mietmarkt drängen, steigen die Mietpreise – ein Kernbestandteil des Verbraucherpreisindex – an.

Rolle der Notenbanker

Die durch die Pandemie verursachte Inflation wurde durch die russische Invasion in der Ukraine zusätzlich verschärft. Dies führte zu einem Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise. Aber auch hier war klar, dass die Preise nicht im gleichen Tempo weiter steigen konnten, und viele von uns sagten voraus, dass es zu einer Desinflation kommen würde – oder im Fall des Öls sogar zu einer Deflation (einem Preisrückgang).

Wir hatten recht. Tatsächlich ist die Inflation in den USA und Europa drastisch zurückgegangen. Auch wenn sie bisher den Zielwert der Notenbanken von 2% nicht erreicht hat, ist sie niedriger als von den meisten erwartet (3,7% in den USA, 2,9% im Euroraum, 3% in Deutschland und 3,5% in Spanien). Zudem muss man bedenken, dass das 2%-Ziel willkürlich gesetzt ist. Es gibt keine Beweise dafür, dass sich Länder mit 2% Inflation besser entwickeln als solche mit 3% Inflation; entscheidend ist, dass die Inflation unter Kontrolle ist. Das ist heute eindeutig der Fall.

Natürlich werden sich die Notenbanker selbst auf die Schulter klopfen. Aber sie haben bei der jüngsten Desinflation kaum eine Rolle gespielt. Die Anhebung der Zinssätze tat nichts gegen das Problem, mit dem wir konfrontiert waren: die angebotsseitige und durch Nachfrageverschiebungen bedingte Inflation. Wenn überhaupt kam es trotz und nicht wegen der Maßnahmen der Notenbanken zur Desinflation.

Die Märkte haben dies die ganze Zeit über weitgehend verstanden. Deshalb blieben die Inflationserwartungen zahm. Während einige Notenbank-Ökonomen behaupten, dies sei auf ihre eigene entschlossene Reaktion zurückzuführen, erzählen die Daten eine andere Geschichte. Die Inflationserwartungen waren von Anfang an gedämpft, weil die Märkte verstanden, dass die angebotsseitigen Verwerfungen vorübergehender Art waren. Erst nachdem die Notenbanker gebetsmühlenartig ihre Befürchtungen wiederholten, dass Inflation und Inflationserwartungen sich verfestigen und eine lange, schwere Zeit hoher Zinsen und hoher Arbeitslosigkeit erfordern würden, stiegen die Inflationserwartungen. (Aber selbst dann bewegten sie sich kaum: Sie erreichten im April 2021 für den Durchschnitt der nächsten fünf Jahre 2,67%, bevor sie ein Jahr später wieder auf 2,3% zurückfielen).

Vor dem jüngsten Konflikt im Nahen Osten – der erneut das Schreckgespenst höherer Ölpreise heraufbeschwört – war klar, dass die Inflation ohne jenen großen Anstieg der Arbeitslosigkeit „besiegt“ wurde, der, wie die Inflationsfalken fest und steif behaupteten, hierfür notwendig sei. Wieder einmal wurde die durch die Phillips-Kurve ausgedrückte Standardbeziehung der Makroökonomie zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nicht bestätigt.

Diese „Theorie“ war während eines großen Teils des letzten Vierteljahrhunderts ein unzuverlässiger Richtweiser, und so war es auch diesmal. Die makroökonomische Modellierung mag gut funktionieren, wenn die relativen Preise konstant sind und sich die großen Veränderungen in der Wirtschaft um die Gesamtnachfrage drehen, aber nicht im Falle großer sektoraler Veränderungen und damit einhergehender Änderungen der relativen Preise.

Ökonomen gespalten

Als die postpandemische Inflation vor mehr als zwei Jahren begann, teilten sich die Ökonomen schnell in zwei Lager: diejenigen, die einer übermäßigen Gesamtnachfrage die Schuld gaben, die sie großen Konjunkturpaketen zuschrieben, und jene, die argumentierten, dass die Verwerfungen lediglich vorübergehender und selbstkorrigierender Art seien. Zu diesem Zeitpunkt war unklar, wie sich die Pandemie entwickeln würde. Konfrontiert mit einer neuartigen wirtschaftlichen Erschütterung konnte niemand mit Sicherheit vorhersagen, wie lange es dauern würde, bis desinflationäre Kräfte auftreten würden. Ebenso wenig rechneten viele mit der mangelnden Resilienz der Märkte oder damit, wie viel temporäre Monopolmacht die angebotsseitigen Verwerfungen ausgewählten Unternehmen verleihen würden.

Aber in den folgenden zwei Jahren haben sorgfältige Studien zum Zeitpunkt der Preisanstiege und zum Ausmaß der Verschiebungen der Gesamtnachfrage im Verhältnis zum Gesamtangebot die Geschichte der Inflationsfalken von einer „zu hohen Gesamtnachfrage“ weitgehend diskreditiert. Sie erklärte einfach nicht, was passiert war. Was auch immer an Glaubwürdigkeit diese Geschichte noch hatte, wurde nun durch die Desinflation weiter untergraben.

Zum Glück für die Wirtschaft hatten diejenigen recht, die von einer lediglich vorübergehenden Inflation ausgingen. Hoffen wir, dass die Wirtschaftswissenschaft die richtigen Lehren daraus zieht.


* Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor an der Columbia University sowie Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung (ICRICT).

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2023

www.project-syndicate.org.