Das Haus ist weg. Und mit ihm auch die Nachbarn, die Nanny des Sohnes, die Bäckerei nebenan, die täglichen Rituale. Im Grunde genommen ihr gewohntes Leben. Ihr Land. Obwohl es noch da ist, immer in ihren Gedanken, in ihren Träumen, in den Nachrichten sowieso. Russland, das die Ukraine bombardiert und es triumphierend verkündet, Russland, das Tausenden Menschen ihr Leben genommen hat und es noch nehmen wird, Russland, das sich und andere zerstört. „Es ist die Hölle“, sagt Mascha Karnowitsch-Walua. Eine Hölle, durch die sie täglich gehe, auch in Slowenien, wo sie mittlerweile lebt, weil sie in ihrem geliebten Moskau nicht mehr habe atmen können. Darüber erzählt sie jede Woche in ihrem Podcast „Es gibt kein ,Richtig‘“. Mit ihrer Mitmoderatorin Xenia Krassilnikowa – auch sie lebt nicht mehr in Russland, sondern in Georgien – informiert sie seit Jahren über psychische Gesundheit, Elternschaft und Frauenrechte. „Depressives Stand-up“ nennen die Frauen ihr Format.
Seit einem Jahr geht es dabei nur noch um Russlands Vernichtungskrieg in der Ukraine, der letztlich auch in ihrem Namen geschieht. Es geht um ihr Russland, an dem sie leiden wie Millionen anderer Russinnen und Russen, die gegangen sind oder geblieben. Sie informieren, sie nennen die Dinge beim Namen, riskieren, als „ausländischer Agent“ eingestuft zu werden oder wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ angeklagt zu sein. Sie kämpfen. Gegen die militaristische Indoktrinierung ihrer Mitmenschen an, gegen ihre eigenen Schuldgefühle, dagegen, dass die Welt in jedem Russen das Böse zu erkennen glaubt.
Wessen Haus und welche Luft?
Umfragen zufolge, auch wenn Umfragen in einem totalitären Land schwer zu interpretieren sind, sprechen sich etwa 20 Prozent der Befragten gegen das Putin-Regime aus. Das wären – auf die russische Bevölkerung hochgerechnet – Millionen von Menschen. Darunter sind Rechtsanwälte, die Angeklagte wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ vor Gericht vertreten, Ärzte, die Schwerstkranke trotz immer weniger Medikamente palliativ betreuen, Psychologen, die Orientierungslosen Orientierung zu geben versuchen, Lehrer, die sich gegen die Vereinnahmung wenden, Menschen, die Blumen an „ukrainischen“ Denkmälern quer durchs Land niederlegen oder an Straßenlaternen Parolen gegen das Regime schreiben, weil jede andere Form von Protest unmöglich gemacht worden ist. Es ist ein schweigender Widerstand, weil viele im Land, das sich gegen die Aufklärung seiner Vergangenheit sträubt, in der Anpassung geübt sind.
„Russland ist auch mein Haus, nicht nur seins, Putins“, sagt der politische Beobachter Andrej Kolesnikow vom Carnegie-Zentrum. Die Moskauer Filiale ist längst dicht, Kolesnikow muss sich seit Dezember vor den Behörden „ausländischer Agent“ nennen und allerlei schikanierende Abrechnungen ans Justizministerium abliefern, wo jeder einsehen kann, woher seine Einnahmen kommen und wofür er Geld ausgibt. Selbst jeder Kaffee muss darin erscheinen. Er hätte weggehen können, seine Expertise ist auch im Ausland gefragt. Es war ein schwieriges Abwägen des Dafür und des Dagegen, ein ständiges Auf und Ab, an dem sich viele Menschen in Russland auch in diesen Tagen abarbeiten. Die Kolesnikows entschieden sich fürs Bleiben. Die Teenager-Tochter, die Enkel. „Die Umstände“, nennt es der 57-Jährige in der Sendung „Hier“ des YouTube-Ablegers der unabhängigen kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta.
Der Staat sagt uns, wie wir zu sterben haben, aber erlaubt uns nicht, das zu lesen, was wir lesen wollen
Die Nowaja darf keine Zeitung mehr sein, ein Moskauer Gericht hat vor einigen Tagen die Medienregistrierung kassiert, die Zeitung, ohnehin seit März nicht mehr als Blatt zu haben, ist offiziell kein journalistisches Erzeugnis mehr, die Journalisten, die sich nun „Blogger“ nennen, arbeiten dennoch weiter. „Der Staat sagt uns, wie wir zu sterben haben, aber erlaubt uns nicht, das zu lesen, was wir lesen wollen“, sagte der Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow nach der Gerichtsentscheidung. Auch Muratow ist in Russland geblieben, er verzweifelt an seinen Mitmenschen und kämpft, wie er das seit Jahren tut, gegen die „Einnahme der Gehirne“ durch den Staat.
Versuchen, „Menschen zu bleiben“
Andrej Kolesnikow sagt: „Man gewöhnt sich, irgendwie. Irgendwie geht es doch, aufzutreten, zu sprechen. Nicht zu sprechen, ist unmöglich. Hier spüre ich die Atmosphäre, auch wenn diese Atmosphäre, die Luft, die ich zusammen mit Putin atme, schlecht ist. Ich spüre die schwierigen Prozesse, die in den Köpfen der Menschen vorgehen.“ Es klingt, als würde er sich selbst vergewissern wollen, im Land geblieben zu sein. Er hat viele Freunde, Bekannte, Verwandte ziehen sehen. „Egal, wie sehr man versucht, sich abzulenken, Ablenkung ist unmöglich, die Agenda ist rund um die Uhr vorgegeben. Kino ist unmöglich, Theater ist unmöglich.“

„Einfach unpassend“, nennt auch der Pädagoge Dima Zicer solche „Zerstreuungen“. „Alles, was mich umgibt, was ich tue, hat 100-prozentig mit dem Krieg zu tun“, sagt der 56-Jährige im Gespräch. Er spricht wie viele im Land, die vor Schreck zunächst wie erstarrt waren und nun versuchen, „Menschen zu bleiben“, wie sie sagen. Vor dem 24. Februar habe er geglaubt, er wisse, wie sein Leben weiter verlaufen werde, seine Schule in Sankt Petersburg, seine Projekte, seine Auftritte, seine Bücher. Zicer hat sich der „nicht-formellen Bildung“ verschrieben: dem Lernen in einer Beziehung, die nicht von oben herab bestimmt wird, sondern in der jeder ein Subjekt ist, mit persönlichem Interesse aller Teilnehmenden an den Themen, mit Austausch und Dialog, durch Wahl und Erforschung. Mittel, die in staatlichen russischen Schulen wenig bis gar nicht zum Zug kommen. Ohne das Schulparlament sollte nichts gehen in seiner alternativen Schule, die auf Noten und Hausaufgaben verzichtet und in der ein Zweitklässler auch schon einmal bei den Siebtklässlern den Stoff mitmachen kann, wenn es ihn denn interessiert. Es sollte im Kleinen das gelebt werden, wofür sich im Großen in Russland viele seit Jahrzehnten einsetzen: die Demokratie.
Einfach war es auch vor dem Krieg nicht, die Werte zu pflegen, die Zicer und seinem Team wichtig sind. „Am 24. Februar stürzte alles ein“, sagt der Petersburger, der als Kind oft bei seiner Großmutter in der Ukraine war. Er gab seine Sendung im staatlichen Radio auf, bei der er – dynamisch und entspannt zugleich – Ratschläge für ein besseres Leben zwischen Eltern, Kindern, Lehrern gab, seine Auftritte quer durch Russland waren Geschichte. „Die Aktualität hat sich geändert, aber meine Überzeugung ja nicht.“ Seine Sendung „Lieben nicht erziehen“ führt er nun bei einem privaten Podcast-Studio weiter. Die Gäste fragen nun kaum mehr danach, wie man die Kinder vom Schnuller entwöhnt oder wie es mit dem Töpfchen zu halten sei. Sie rufen aus der ganzen Welt an, es sind geflohene Ukrainerinnen, es sind heranwachsende Russen, es sind Menschen, die nicht weiterwissen in einer Welt, die vor ihren Augen zusammengebrochen ist. Zicer fängt jede Sendung mit einem Anti-Kriegs-Auftritt an, er zählt die Kriegstage, er prangert das militaristische Regime an und wendet sich – in gewohnt zugewandtem Ton – seinen Anrufern zu. Manche weinen dabei, andere wollen wissen, wie es funktionieren könne, dass man trotz so unterschiedlichen Einstellungen miteinander auskommt. „Wen sollen sie auch anrufen?“
Leben mit Opfern totalitären Regimes
Zicer tritt im Ausland auf, sammelt Geld für die Ukraine. „Meine Seele schmerzt. Es schmerzt unfassbar, was seit 360 Tagen und mehr geschieht.“ Er könne sich kaum mehr durch seine Heimatstadt Petersburg bewegen. „Vor der Eremitage steht ein Denkmal für Mariupol. Das ist nicht zu beschreiben.“ Viele in Russland hätten es nie gelernt, etwas anzuzweifeln, zu reflektieren. „Es sind unglückliche Opfer eines totalitären Systems, die nicht bereit sind zu denken, sondern lieber Befehle von oben erhalten.“
Es sind unglückliche Opfer eines totalitären Systems, die nicht bereit sind zu denken, sondern lieber Befehle von oben erhalten
Wie sich das Leben mit solchen „Opfern“ gestaltet, erlebt der 20-jährige Michail Domratschew täglich. Seine Mutter glaubt der staatlichen Propaganda, ihr Lebenspartner schlug den Studenten für seine Position zusammen. Der Großvater hat ihn als Verräter aus dem Haus gejagt – und mit der Ausrufung der Mobilisierung wieder zu sich gerufen. Er solle einfach einen großen Bogen um den Krieg machen, sagen ihm die Verwandten. Doch Domratschew denkt gar nicht daran. „Ich habe zwar teilweise den Glauben an die Menschen verloren, aber ich gebe meine politische Haltung nicht auf. Vor Strafen fürchte ich mich nicht, Gefängnis aber macht mir natürlich Angst.“
In Perwouralsk, einem Provinznest in der Nähe von Jekaterinburg, hatte er einst damit angefangen, Schaukeln zu reparieren oder Bänke aufzustellen. Schön sollte es sein im Ort, lebenswert. Er wollte zum Staat, ihn quasi von innen verändern. „Jetzt ist nicht die Zeit für hübsche Bänke“, sagt er – und versuchte im vergangenen September, Lokalabgeordneter zu werden. Gewonnen hat ein Kremlloyaler. Domratschew wird als Feind denunziert, sein Konterfei hängt an manchem Auto im Ort, darunter steht: „Er ist einer von den Nazis, er beschämt das russische Volk“. In manchen Momenten fühle er sich verloren, sagt er. „Es schmerzt.“ Wie es wohl auch Mascha Karnowitsch-Walua schmerzt, Andrej Kolesnikow, Dima Zicer und auch so viele, die in der Öffentlichkeit schweigen. Vordergründig lebt ihr Land das Leben weiter wie bisher. Der Krieg zerfrisst es von innen. Auf Jahrzehnte hinaus.

De Maart
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