Den Fall der Berliner Mauer erlebte ich im deutschen Südwesten. Paris war näher als die frühere deutsche Hauptstadt, die dies bald wieder sein sollte. In meinem Studium der Politikwissenschaft befasste ich mich vor allem mit den Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa. Michail Gorbatschow war in aller Munde. Der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sozialistischen Sowjetrepubliken (KPdSU) hatte seit seinem Amtsantritt im März 1985 eine Politik der Transparenz und Offenheit (Glasnost) und des Umbaus und der Modernisierung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems (Perestrojka) der Sowjetunion betrieben und damit einen Prozess in Gang gesetzt, der Auswirkungen auf den gesamten Einflussbereich des Warschauer Paktes hatte. Angetreten war Gorbatschow, um das Projekt des Kommunismus zu retten.
Die Massenflucht vieler Ostdeutscher nach Westen hatte längst eingesetzt, als Gorbatschow am 7. Oktober bei der offiziellen Jubiläumsfeier zum 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu Gast in Ost-Berlin war. Anfang Mai hatte die ungarische Regierung angekündigt, die Grenzbefestigungen zu Österreich abzubauen. Ungarns Außenminister Gyula Horn zerschnitt zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock am 27. Juni symbolisch den Stacheldrahtzaun. Im ersten Halbjahr 1989 kehrten 100.000 Menschen der DDR den Rücken. Im Land selber kam es aufgrund der ebenso plump wie systematisch gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai zu Protesten.
Auch wirtschaftliche Probleme hatten das Regime der Sozialistischen Einheitspartei (SED) unter ihrem Generalsekretär Erich Honecker mehr und mehr unter Druck gesetzt. Am Anfang war es nur eine kleine Minderheit, die sich für Veränderungen einsetzte. Doch dann protestierten mehr und mehr Menschen in den Städten der DDR gegen die Machthaber. Am 9. Oktober waren es 70.000 Demonstranten in Leipzig, am 4. November 500.000 auf dem Berliner Alexanderplatz. Gorbatschows Reformpolitik hatte in der DDR-Gesellschaft Hoffnungen entfacht. Die Ereignisse überschlugen sich. Geschichte fand im Stundentakt statt. Fünf Tage später fiel die Mauer. Der Ausgang dieser friedlichen Revolution war jedoch nach wie vor ungewiss. Zwar war die kommunistische Diktatur am Ende, doch die DDR existierte bis zum Tag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 weiter.

Zur Diktaturwirklichkeit hatte aber auch gehört, erinnert der deutsche Schriftsteller Ilko-Sascha Kowalczuk, dass Millionen Menschen das System unterstützt hatten. So etwa Walter und Waltraud. Ich nenne das mittlerweile verstorbene Ehepaar aus Weimar, das ich im Frühsommer 1990 kennenlernte, nur beim Vornamen, wie ich es mit ihren Kindern vereinbart hatte. Die beiden waren Lehrer und überzeugte Kommunisten. Mein Vater und ich waren auf eine gemeinsame mehrwöchige Autofahrt nach Osten aufgebrochen, um „das andere Deutschland“ kennenzulernen, das uns doch so nah, aber zugleich auch so fremd war. Es fühlte sich jedenfalls alles ganz anders an als die alljährlichen Urlaube in Südtirol. Vieles war anders. Vor allem waren wir in einem Staat, der bald aufhörte zu existieren. Eine historisch wohl einzigartige Situation. Die DDR sollte es kurz darauf nicht mehr geben.
Klassik und Aufbruch
Während einerseits nach wie vor DDR-Bürger ihr Glück im Westen versuchten, hielt der Kapitalismus im Osten Einzug. Viele Menschen vermieteten ihre Zimmer und Wohnungen an neugierige Wessis, die die „neue Bundesländer“ genannten Gebiete der früheren „Ostzone“ und vielleicht auch Verwandte besuchen wollten. Wir hatten keine Familie dort. Aber wir hatten Walter und Waltraud, die zwar Kommunisten waren, aber nicht glühend überzeugt von Marx und Lenin, geschweige denn von Ulbricht und Honecker. Sie lebten in einem alten Gebäude, das noch aus der Zwischenkriegszeit stammte. Die Umgebung in der Klassikerstadt, die für ihre Sehenswürdigkeiten und ihre Dichterfürsten, den Hessen Goethe und den Schwaben Schiller warb, verströmte einen morbiden Charme des baulichen Zerfalls. Die Straßen waren kopfsteingepflastert oder mit Schlaglöchern übersät. Der Anfang der freien Marktwirtschaft äußerte sich in einer Überzahl an Thüringer-Wurstbuden (die echten und wahren) und neu eröffneten Bäckereien. Es herrschte eine zaghafte Aufbruchstimmung.

Über ihre neue Situation waren Walter, ein ausgemergelt wirkender, kettenrauchender Mann mit zauseligen Haaren, und Waltraud, eine große, schlanke Frau mit eleganter Ausstrahlung, skeptisch, die Zukunft bereitete ihnen Sorgen. „Was soll nur mit uns passieren? Behalten wir unsere Stellen als Lehrer?“, lauteten ihre Fragen. „Vieles läuft schlecht hier, aber es läuft“, sagte Walter. „Man brauchte sich bisher keine Gedanken über die berufliche Zukunft zu machen, wenn man in der Spur blieb und sich nichts zu Schulden kommen ließ.“ Es sei hierbei gesagt, dass beide frühpensioniert wurden, ihre Kinder zogen später zum Studium nach Berlin und engagierten sich später bei der SED-Nachfolgepartei PDS und bei der Linken.
Von einem neu eröffneten Lokal zu einer der zahlreichen Thüringer-Buden bis zur nächsten, von einer Stadt zur anderen fuhren wir weiter. Vom beschaulichen Erfurt nach Jena, von wo mir die aus Plattenbauten bestehende Trabantenstadt Lobeda in Erinnerung bleibt. Ich sollte ein Jahr später in München eine Studentin namens Annett kennenlernen, die von dort kam und die mir ihre Geschichte erzählte: Sie habe zusammen mit ihrem späteren Mann einer Gruppe regimekritischer Studenten angehört, die ständigen Kontrollen und Gängelei seitens der Polizei und Staatssicherheit (Stasi) ausgesetzt war, und ein Jahr vor der Wende sei ihnen die Flucht nach Westen gelungen. In Hannover habe sie ihr Studium beendet. In ihren Stasi-Akten habe sie festgestellt, dass einige aus ihrem früheren Freundeskreis als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi tätig gewesen waren und sie ausspioniert hatten. „Die Wiedervereinigung hat uns erst recht getrennt von unserem früheren Leben und den Menschen, mit denen wir zusammengelebt hatten“, erinnerte sie sich. „Die Einheit, so die Ironie der Geschichte, hat einen Keil in viele Freundschaften getrieben.“
„Zonen-Gaby“
Auf unserer Reise trafen wir immer wieder auf Menschen, die uns mit ihrer herzlichen Gastfreundschaft begrüßten. In manchen Dörfern standen Kinder am Straßenrand, die uns fragten, ob wir Schokolade aus dem Westen dabeihätten. Wir verteilten Schweizer Schokolade und lösten damit helle Begeisterung aus. Die Erzählungen von einigen Westdeutschen, die behaupteten, sie seien nach den in der DDR raren und daher besonders begehrten Bananen gefragt worden, konnten wir nicht bestätigen. Die Banane, im Sinne eines gehässigen Ost-Klischees als Symbol von Mangelwirtschaft einerseits und Freiheit andererseits bezeichnet, wurde nicht zuletzt durch ein legendäres Titelbild der Satirezeitschrift Titanic zum Motiv der West-Arroganz. Dabei kam das Covermodel „Zonen-Gaby“ nicht einmal aus der DDR.

Aus dem Westen stammten hingegen etliche Reisende, denen wir begegneten und die sich als windige Geschäftemacher entpuppten: Autoverkäufer, Immobilienhaie und Versicherungsvertreter, die ein gutes Geschäft bei den als unbedarft verschrienen Ostdeutschen witterten. Den Gipfel der Unverschämtheit erlebten wir im Gespräch mit einem Augsburger, der mit überteuerten Reinigungsmitteln für Teppiche und Teppichböden handelte, seine Kunden übers Ohr und in einer Leipziger Kneipe kräftig auf den Putz haute.
Nach Jena machten wir Zwischenstation in der größten sächsischen Stadt Leipzig. Von weitem sahen wir das hässlich-monströse Völkerschlachten-Denkmal. Wir besuchten unter anderem das Gewandhaus sowie Auerbachs Keller unter der Mädler-Passage und die Nikolai-Kirche, die ein Jahr zuvor zum Symbol der Friedlichen Revolution geworden war. Das Ende der DDR sei von Leipzig ausgegangen, hieß es, was auf die Friedensgebete seit Anfang der 80er-Jahre gegen das Wettrüsten im Kalten Krieg zurückgeführt wird. Dabei waren die Gebete im Laufe der Zeit mangels Beteiligung eingestellt worden. Nur einige Unentwegte setzten sie fort. Aus ihrem Kreis entwickelten sich die Basisgruppen für die Demos von 1989. Im südlichen Leipziger Stadtteil Connewitz entstand später das Kulturzentrum Conne Island.
Donald Duck und Marx
Wir kamen hingegen im Leipziger Osten bei einer Familie unter, in einem Viertel, in dem der Schriftsteller Clemens Meyer aufgewachsen war. Dieser hatte als Zwölfjähriger mit seiner Mutter und seiner Schwester an den Montagsdemos teilgenommen. Sein Debütroman „Als wir träumten“ (2006), von Andreas Dresen verfilmt, handelt von seiner Jugend während der Wendezeit. Meyer jobbte nach dem Abitur unter anderem als Bauarbeiter und Möbelpacker, lebte von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld – und verbrachte eine Zeitlang im Jugendknast. In seinem Roman „Im Stein“ von 2013 geht es um Sexarbeit und Zwangsprostitution mit Minderjährigen in einer Stadt, die Leipzig sehr ähnelt. Alles dreht sich um Macht, Geld und Konkurrenz – um Kapitalismus. Am Ende der Ausgeliefertsein-Kette stehen die Huren. Außerdem kommen viele Donald-Duck-Comics und ein wenig Karl Marx vor.

Nach einem Abstecher nach Plauen, das durch eine starke Opposition eine Vorreiterrolle in der Wendezeit einnahm und wo am 15. Dezember 1989 mehr als 10.000 Beschäftigte die Arbeit niederlegten, um für die Einheit Deutschlands einzutreten, ging es weiter nach Karl-Marx-Stadt. Vor dem Denkmal des Namensgebers trafen wir uns mit Sascha, den ich noch aus meiner Zeit als Bühnen- und Kabelhelfer beim Bayerischen Fernsehen kannte. Er stammte ursprünglich aus Crimmitschau und war vor der Wende in den Westen geflohen. In München lebte er zu meiner Zeit n einem Studentenwohnheim und studierte zumindest pro forma, um den Job zu bekommen.
Geschäftstüchtig wie eh und je, hatte Sascha in seiner Heimat bald einen Catering-, Taxi- und Transportservice ins Leben gerufen. „Ich mache aus allem etwas“, lautete sein Motto. Besonders schien der Selfmademan aus allem Geld zu machen. Unser Treffen artete zu einer Tour durch recht improvisiert wirkende Kneipen aus. Wir verließen die Stadt, die bald wieder Chemnitz heißen sollte, mit einem Hangover. Der Likör „August der Starke“ sollte uns noch lange in Erinnerung bleiben.
Vom „Trabbi“ zur NSU
In der Nähe von Zwickau, einer Wiege der deutschen Automobilindustrie – die VEB Sachsenring erlangte Berühmtheit durch den Trabant, kurz „Trabbi“ – erlebten wir erstmals Jugendliche, die mit Glatzen und Springerstiefeln auftraten. Die Skinheadszene war mir im Zuge des in den 80ern im Westen zunehmenden Rechtsextremismus ein abschreckender Begriff. In Sachsen waren sie frühe Vorboten der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ der 90er-Jahre, als Rechtsradikale im Osten Jagd auf Ausländer, „linke Zecken“, wie sie Punks nannten, Homosexuelle und Obdachlose machten. Ein paar Jahre gehörten sie in den „neuen Bundesländern“ bereits fast zum Mainstream.

In Zwickau kam es 21 Jahre später, am 4. November 2011, zu einer Explosion in einem Wohnhaus. Wie sich später herausstellte, lebten dort eine Zeit lang die drei Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die insgesamt zehn Menschen ermordet sowie drei Sprengstoffanschläge und zahlreiche Raubüberfälle verübt hatten: Die Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe stammten allesamt aus Jena. Letztere löste die Explosion aus, nachdem sie vom Tod – dem mutmaßlichen Suizid – ihrer beiden Komplizen in Eisenach gehört hatte.
In Dresden nahmen uns Harry und seine Familie auf. Ihr Haus erschien uns recht bürgerlich. Die Familie setzte viel Hoffnung in die Wende. Dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Osten „blühende Landschaften“ versprochen hatte, traf bei der Familie, die nach eigenen Aussagen nie mit dem SED-Regime sympathisierte und die 40 Jahre DDR als überstandene Leidenszeit betrachtete, auf große Gegenliebe. Harry war ein überzeugter Verfechter der Marktwirtschaft. Er war Anhänger der CDU und von Kurt Biedenkopf, der in Sachsen gut ein Vierteljahr später die ersten Landtagswahlen mit absoluter Mehrheit gewann und bis 2002 Ministerpräsident des Freistaats war.
„Tal der Ahnungslosen“
Harry erzählte, dass er aus dem „Tal der Ahnungslosen“ stamme, einer Gegend östlich von Dresden, in der weder Westfernsehen noch Westradio empfangen wurde – oder zumindest nur mit großem Aufwand. Er erzählte uns eine Nacht durch, wie man in der DDR seine kleinen Freiheiten in einem System der Unfreiheit auslebte. In bester Erinnerung blieb uns auch seine Frau Irmgard, die den besten Kirschkuchen im ganzen deutschen Osten backen konnte. Leider begegnete uns in jener Nacht auch wieder „August der Starke“, der uns am Tag darauf am Weiterfahren hinderte.

Einiges war ähnlich wie im Westen, vieles war anders im Osten. Wer auf eine Verähnlichung von Ost und West setze, werde noch lange warten müssen, schrieb unlängst der Berliner Soziologe Steffen Mau. In seinem dieses Jahr erschienenen Buch „Ungleich vereint“ erklärt er, „warum der Osten anders bleibt“. In der nach 35 Jahren beginnenden „Posttransformationsphase“ scheine eine wiedererstarkte ostdeutsche Identität „alive and kicking“. Nach wie vor gebe es „atmosphärische Störungen“ und zeigten sich „hartnäckige Unterschiede“ zwischen Ost und West, stellt Mau fest – von der Kaufkraft über die Produktivität bis zur Vereinsdichte, von den Haushaltsvermögen über die Parteimitgliedschaften bis zu den Wahlerfolgen der rechtsextremen AfD. Eine „Phantomgrenze“ durchziehe Deutschland.
Demnächst
Teil II: Vom Land der stählernen Riesen bis zum Harzer Brocken
De Maart





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