Samstag1. November 2025

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Migrationsexperte im Interview„Die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“

Migrationsexperte im Interview / „Die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“
„Es braucht dringend eine organisierte Luftbrücke für Flüchtlinge“: aus dem Osten der Ukraine evakuierte Familien auf dem Weg nach Polen Foto: AFP/Yuriy Dyachyshyn

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Der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, Gerald Knaus, spricht von der größten Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – doch das Bewusstsein dafür sei noch nicht bei allen angekommen. Er fordert eine bessere Koordination und Verteilung innerhalb der EU. Man müsse sich auf Hunderttausende Menschen einstellen, nicht nur Tausende.

Tageblatt: Wie läuft es bei der Verteilung von Flüchtlingen aus der Ukraine in der EU?

Gerald Knaus: Auf der Ebene der EU passiert noch viel zu wenig. Der Schlüssel sind Angebote von Mitgliedsstaaten, in den nächsten Wochen Hunderttausende organisiert aufzunehmen. Es gibt bereits Angebote einiger europäischer Länder, aus Moldawien jeweils zwischen 500 und 2.500 Flüchtlinge auszufliegen. Die ersten Flüge fanden schon statt. Das ist gut, aber noch viel zu wenig.

Woran liegt das?

In manchen Ländern herrscht immer noch das Gefühl, es würde genügen, wenn sich Flüchtlinge in der EU von selbst verteilen. Wenn aber weiterhin jeden Tag Zehntausende neue Flüchtlinge in die EU kommen, genügt das eben nicht. Dann drohen große Probleme in den Erstankunftsländern. Auch die Ausbeutung von schutzbedürftigen Frauen und Kindern, die nicht schnell ein Dach über dem Kopf und Unterstützung finden, könnte dann dramatisch zunehmen. Deswegen braucht es dringend eine organisierte Luftbrücke für Flüchtlinge, gemeinsam mit Großbritannien, Kanada und den USA als eine EU-G7-Initiative. Die EU-Innenminister sollten dies noch diese Woche in die Wege leiten.

Einigen in Europa fällt es immer noch schwer zu verstehen, was es bedeutet, die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erleben

Wie optimistisch sind Sie, dass diese international organisierte Luftbrücke tatsächlich eingerichtet wird?

Einigen in Europa fällt es immer noch schwer zu verstehen, was es bedeutet, die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erleben. Regierungen müssen jetzt so handeln, wie es das Ausmaß dieser humanitären Herausforderung erfordert. Das Bewusstsein, dass sich mögliche weitere Millionen von schutzbedürftigen Ukrainerinnen und Kindern nicht von selbst spontan so in der EU verteilen, dass allen schnell geholfen werden kann, wächst, aber zu langsam.

Flüchtlinge aus der Ukraine versuchen einen Platz im Zug nach Warschau zu ergattern 
Flüchtlinge aus der Ukraine versuchen einen Platz im Zug nach Warschau zu ergattern  Foto: AFP/Angelos Tzortzinis

Was sollte konkret passieren?

Es muss ein Team ernannt werden, dass nicht nur für eine humanitäre Luftbrücke wirbt, sondern dann auch koordiniert, damit in den nächsten vier Wochen Hunderttausende Menschen nach Spanien, Frankreich oder auch nach Großbritannien gebracht werden können. Hunderttausende, nicht Tausende.

Die jüngste Erfahrung aus Afghanistan hat gezeigt, wie groß die Probleme dabei sein können. Was muss passieren, damit es diesmal besser läuft?

Aus Afghanistan wurden im letzten Sommer binnen zwei Wochen immerhin mehr als 100.000 Menschen mit Flugzeugen evakuiert, auch wenn es chaotisch war. Aber ansonsten sind die Situationen schwer zu vergleichen. Mit dem Inkrafttreten der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz haben alle Menschen, die in die EU fliehen, das Recht, überall in der EU aufgenommen zu werden. Wenn heute Großstädte in der EU ankündigen würden, dass sie binnen weniger Wochen mehr als zwei Prozent ihrer Bevölkerung aufnehmen könnten, dann müsste man Flüchtlinge aus Rumänien, der Slowakei oder Polen nur noch dorthin bringen. Und diese müssen überzeugt werden, dass es in ihrem Interesse ist, zunächst nach Dublin, Madrid oder Marseille zu fliegen.

Was fordern Sie konkret?

Es sollte Hubs in ganz Europa geben, wo Menschen zunächst aufgenommen und ihnen Optionen erklärt werden. Klar ist auch: Die Kommunikation und Logistik dafür erfordern ein Maß an Organisation, wie es sie in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Das ist mit keiner Umsiedlung von Flüchtlingen vergleichbar, mit der europäische Institutionen bisher betraut waren. Darauf war niemand vorbereitet.

Die Denkfabrik ESI und ihr Gründer Knaus

Der österreichische Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus ist Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), einer Denkfabrik mit Sitz in Berlin und Büros in diversen Städten Europas. Er studierte in Oxford, Brüssel und Bologna. Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei vom 18. März 2016 geht auf seine Initiative zurück.

Die ESI wurde 1999 nach dem Kosovokrieg in Sarajevo gegründet. Schwerpunkt der Arbeit des Think Tanks waren zunächst die Länder Südosteuropas im Hinblick auf die europäische Einigung. Inzwischen ist die ESI vor allem für Konzepte in der Migrationspolitik bekannt. Sie wird finanziert unter anderem von der Stiftung Mercator, der schwedische Entwicklungsbehörde Sida und der Open Society Foundation des ungarisch-amerikanischen Unternehmers George Soros.