StandpunktDie Falle der geldpolitischen Straffung: Schuldenkrisen und Arbeitslosigkeit als Kollateralschäden

Standpunkt / Die Falle der geldpolitischen Straffung: Schuldenkrisen und Arbeitslosigkeit als Kollateralschäden
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt Foto: Bloomberg

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Der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana warnte, dass „diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen“. Aber manchmal haben selbst diejenigen, die sich an die Vergangenheit erinnern können, ein selektives Gedächtnis und ziehen die falschen Schlüsse. So verhält es sich auch mit der weltweiten politischen Reaktion auf die derzeitige Inflationswelle. Regierungen und Zentralbanken in den Industrieländern beharren darauf, dass die einzige Möglichkeit, die steigenden Preise zu zähmen, darin besteht, die Zinssätze zu erhöhen und die Geldpolitik zu straffen.

Der Volcker-Schock von 1979, als die US-Notenbank unter dem damaligen Vorsitzenden Paul Volcker als Reaktion auf die galoppierende Inflation die Zinssätze drastisch anhob, bildete die Vorlage für die heutige Straffung der Geldpolitik. Volckers Zinserhöhungen sollten eine Lohn-Preis-Spirale bekämpfen, indem sie die Arbeitslosigkeit erhöhten, die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer verringerten und die Inflationserwartungen dämpften. Doch die hohen Zinssätze lösten den stärksten Rückgang der US-Wirtschaftstätigkeit seit der Großen Depression aus, und die Erholung dauerte ein halbes Jahrzehnt. Volckers Politik wirkte sich auch auf die ganze Welt aus, da Kapital in die Vereinigten Staaten floss, was zu Auslandsschuldenkrisen und schweren Wirtschaftseinbrüchen führte, die in Lateinamerika und anderen Entwicklungsländern zu einem „verlorenen Jahrzehnt“ führten.

Aber der Kontext für dieses rigorose Vorgehen war ein ganz anderer als die derzeitigen Bedingungen, denn Lohnerhöhungen sind nicht die Hauptursache für den Inflationsdruck. Sogar in den USA sind die Reallöhne im letzten Jahr gesunken. Das hat jedoch einige Ökonomen nicht davon abgehalten, zu argumentieren, dass eine höhere Arbeitslosigkeit und ein damit einhergehender stärkerer Rückgang der Reallöhne notwendig sind, um die Inflation einzudämmen.

Es fehlt an alternativen Strategien

Selbst einige der lautstärksten Befürworter einer restriktiven Geldpolitik und rascher Zinserhöhungen erkennen an, dass diese Strategie höchstwahrscheinlich eine Rezession auslösen und das Leben und den Lebensunterhalt von Millionen Menschen in ihren eigenen Ländern und anderswo erheblich beeinträchtigen wird. Es scheint auch kaum Uneinigkeit darüber zu bestehen, dass die Zinserhöhungen die Inflation bisher nicht gebremst haben, wahrscheinlich weil der Preisanstieg durch andere Faktoren bedingt ist.

Man würde erwarten, dass die vermeintlichen „Erwachsenen im Raum“ der globalen makroökonomischen Politik das Problem erkennen und versuchen, angemessenere Antworten zu entwickeln. Doch die nationalen Entscheidungsträger in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften sowie multilaterale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die in der Regel vernünftigere Bank für Internationalen Zahlungsausgleich scheinen kein Interesse an alternativen Erklärungen oder Strategien zu haben.

Diese intellektuelle Trägheit führt die Politik in die Irre. Die Forschung zeigt immer mehr, dass der derzeitige Inflationsschub durch Versorgungsengpässe, Profitstreben großer Unternehmen in kritischen Sektoren wie Energie und Lebensmittel und steigende Gewinnspannen in anderen Sektoren sowie durch die Rohstoffpreise bedingt ist. Um diese Faktoren in den Griff zu bekommen, bedarf es vernünftiger politischer Maßnahmen wie die Wiederherstellung unterbrochener Versorgungsketten, der Begrenzung von Preisen und Gewinnen in wichtigen Sektoren wie Lebensmittel und Brennstoffe und der Eindämmung von Spekulationen auf den Rohstoffmärkten.

Obwohl die Regierungen sich dieser Möglichkeiten durchaus bewusst sind, ziehen sie diese jedoch nicht ernsthaft in Betracht. Stattdessen überlassen es die gewählten Vertreter weltweit den Zentralbanken, die Inflation zu kontrollieren, und die Zentralbanker wiederum verlassen sich auf das stumpfe Instrument der Zinserhöhungen. Während dies Millionen von Menschen in den Industrieländern unnötigen wirtschaftlichen Schmerz zufügen wird, werden die Folgen für den Rest der Welt wahrscheinlich noch schlimmer sein.

Die spekulativen heißen Geldströme

Ein Teil des Problems besteht darin, dass sich die makroökonomische Politik der wichtigsten fortgeschrittenen Volkswirtschaften der Welt ausschließlich auf das konzentriert, was sie als ihr nationales Interesse ansehen. Die Auswirkungen auf die Kapitalströme und Handelsmuster anderer Länder werden dabei ignoriert. Die globale Finanzkrise von 2008 hatte ihren Ursprung in der US-Wirtschaft, aber ihre Auswirkungen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer waren weitaus schlimmer, weil die Anleger in die Sicherheit von US-Anlagen flüchteten. Und als die massive Liquiditätsausweitung und die ultraniedrigen Zinssätze in den Industrieländern anschließend dazu führten, dass sich die spekulativen heißen Geldströme weltweit ausbreiteten, waren die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen volatilen Märkten ausgesetzt, auf die sie wenig bis gar keinen Einfluss hatten.

In ähnlicher Weise hat die heutige rasche Straffung der Geldpolitik gezeigt, wie tödlich eine solche Integration sein kann. Für viele Entwicklungs- und Schwellenländer gleicht die finanzielle Globalisierung einem kunstvoll errichteten Kartenhaus.

Ein wichtiges neues Papier des niederländischen Wirtschaftswissenschaftlers Servaas Storm zeigt das Ausmaß der Kollateralschäden, die eine Straffung der Geldpolitik in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen verursachen kann. Zinserhöhungen in den USA und Europa werden wahrscheinlich zu weiteren Schuldenkrisen und Zahlungsausfällen, erheblichen Produktionsverlusten, höherer Arbeitslosigkeit und einem starken Anstieg von Ungleichheit und Armut führen, was wiederum wirtschaftliche Stagnation und Instabilität zur Folge hat. Die langfristigen Folgen könnten verheerend sein. In ihrem jüngsten Jahresbericht über Handel und Entwicklung schätzt die UNCTAD, dass die Zinserhöhungen in den USA das künftige Einkommen der Entwicklungsländer (ohne China) um mindestens 360 Milliarden Dollar verringern könnten.

Natürlich können reiche Länder gegen diese Schäden nicht immun bleiben. Während die politischen Entscheidungsträger in den USA und Europa die Auswirkungen ihrer Politik auf andere Länder nicht bedenken, werden die Folgen zwangsläufig auf ihre eigenen Volkswirtschaften übergreifen. Für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen steht jedoch viel mehr auf dem Spiel. Um zu überleben, müssen die Entwicklungs- und Schwellenländer eine größere fiskalische Autonomie und geldpolitische Freiheit anstreben, die es ihnen ermöglichen würde, Kapitalströme anders zu steuern und Handelsmuster neu zu gestalten.

Wie die andauernde Covid-19-Pandemie und die Klimakrise gezeigt haben, geht es bei einer stärkeren multilateralen Zusammenarbeit und einem gerechten Aufschwung nicht nur um Freundlichkeit oder Moral; dies liegt auch im aufgeklärten Eigeninteresse der reichen Länder. Tragischerweise scheint das jedoch kaum jemand in diesen Ländern zu erkennen – am allerwenigsten ihre Wirtschaftspolitiker.


*Jayati Ghosh lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Massachusetts Amherst und ist Mitglied des hochrangigen Beirats des UN-Generalsekretärs für effektiven Multilateralismus.

Übersetzung: Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org

Jill
20. November 2022 - 18.00

Tja wie sagte der US-Finanzminister John Connally schon 1971: „Der US-Dollar ist unsere Währung, aber Euer Problem“. Heute gilt dieser Satz mehr denn je. Powell hat ja angekündigt dass die Zinsen solange erhöht werden, bis „der Job erledigt ist“. America first!