Dienstag4. November 2025

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TheaterDie Ausgeschlossenen: Armut im Zehn-Gänge-Format

Theater / Die Ausgeschlossenen: Armut im Zehn-Gänge-Format
Céline Camara, Raoul Schlechter und Clara Hertz präsentieren das Menü des Abends Foto: Bohumil Kostohryz

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„E Stéck iwwer Aarmut an engem räiche Land“ handelt von den Ausgeschlossenen der luxemburgischen Wohlstandsgesellschaft. Nach einer Ausstellung und dem Buch von Claude Frisoni (Texte) und Raymond Reuter (Fotos) folgt nun die Bühnenversion. Ein Interview mit Regisseurin Leonie Rebentisch.

Tageblatt: Das Projekt „Les Exclus du Festin“ mit den Fotos von Raymond Reuter und einem Text von Claude Frisoni gibt es mittlerweile in mehrfacher Form, als Ausstellung, als Bildband und nun als Theaterstück. Wie geht man das Thema Armut und sozialer Ausschluss an, um es auf die Bühne zu bringen?

Leonie Rebentisch: Es ist sozusagen eine Weiterentwicklung des Buches, das uns als Grundlage unserer eigenen Recherche gedient hat. Ich bekam als Regisseurin die Aufgabe, mich von dem Buch inspirieren zu lassen. Was ich am fesselndsten fand, waren die einzelnen exemplarischen Geschichten. Von diesen griffen wir vier heraus. Ich fand es wichtig zu schauen, dass wir direkt Betroffenen eine Stimme geben und von welchem Gesichtspunkt aus wir uns den Geschichten annähern können. Dafür reflektierten wir auch, wer „wir“ eigentlich sind. Schließlich kommen weder ich noch der Bühnen- und Kostümbildner aus Luxemburg, sondern aus Deutschland. Wir kamen also von außen und mussten uns zuerst einmal orientieren.

Welche Geschichten haben Sie ausgewählt?

Wir wollten mit den Geschichten die große Bandbreite der Problematik sichtbar machen. So haben wir beispielsweise die Geschichte einer Frau namens Rosa, die in einer finanziell sehr prekären Situation lebt, allein ihre Kinder durchbringen muss und auf die Hilfe des Staates angewiesen ist. Ein anderes Beispiel ist das von einem drogenabhängigen Paar, Stéphanie und Marcel, das auf der Straße lebt. Außerdem haben wir die Geschichten von der Familie M.D. und die von Michaël.

Wie verlief Ihre Recherchearbeit?

Regisseurin Leonie Rebentisch
Regisseurin Leonie Rebentisch  Foto: Berliner Ensemble/Moritz Haase

Ich habe zuerst viel über das Thema gelesen. Wir wollten von Anfang an so viele verschiedene Perspektiven wie möglich aufzeigen. Im Dezember hatten wir eine erste Probenphase, in der wir einerseits die Rohfassung des Textes gelesen und geprobt und andererseits weiterrecherchiert haben. Hierfür haben wir uns mit fünf verschiedenen Experten zusammengesetzt, etwa mit einem Streetworker, der aus seinem beruflichen Alltag erzählte, mit der Direktorin der „Stëmm vun der Strooss“ sowie mit einer der Personen aus unseren Geschichten. Alle bestätigten uns, dass die Situation auf der Straße in den letzten Jahren härter geworden ist. Außerdem beriet uns Anne Franziskus, eine Mitarbeiterin des Statec. Durch den Streetworker hatten wir einen spezifischen Einblick in den Alltag der betroffenen Personen, aber auch durch den Besuch bei der „Stëmm“. Durch den ganzen Input, den wir bekamen, haben wir zwei oder drei Szenen komplett neu geschrieben und andere neu angepasst. Das Ensemble brachte viele Vorschläge mit ein, sodass wir nun eine Textfassung haben, hinter der wir alle stehen und die wir gemeinsam erarbeitet haben.

Was bekommt das Publikum am Abend zu sehen?

Es ist insgesamt ein collagenartiger Abend, der sich dem Thema mit einem Grundsetting widmet, das sich von dem Titel des Buches ableitet. Das Stück spielt in einem Fine-Dining-Restaurant. Die Zuschauer sind als Gäste eingeladen. Sie erwartet ein schickes Zehn-Gänge-Menü, doch stattdessen bekommen sie eine Überraschung präsentiert. Wir haben einerseits die Geschichten, andererseits ganz unterschiedliche Szenen, zum Beispiel eine, die sich mit dem Bürokratiewahnsinn auseinandersetzt. Immer wieder kam das Thema auf, wie schwer es ist, die einzelnen Gelder zu beantragen und wie allein gelassen man dabei ist. Und wie schwierig die bürokratische Sprache ist. Dabei kommt es zu reiner regelrecht kafkaesken Szene, als jemand Arbeitslosenhilfe beantragt und ihm immer wieder Steine in den Weg gelegt werden. Außerdem haben wir verschiedene Szenen, in denen wir einfach nur Wissen und Fakten vermitteln. Am Anfang des Stücks gibt es eine Quizshow, die sich mit Statistiken zum Thema Armut beschäftigt. Wichtig war es uns auch, zu zeigen, dass man Lösungsansätze im Kleinen findet. Und es gibt leider auch viele erschreckende Zahlen.

Für Sie überraschende Zahlen?

Zum Beispiel, dass Luxemburg, das man immer als reiches Land sieht, sich an der Spitze der Working Poor in Europa befindet, also der Menschen, die trotz Arbeit in Armut leben. Das sind schon schockierende Zahlen.

Ein großer Teil des Publikums wird sich wohl mit der Thematik schon etwas auskennen. Gibt es noch einen Mehrwert für die Zuschauer, etwas Neues? Wird man noch viele überraschen? Oder soll sich das Publikum bestätigt fühlen?

Diese Frage stellt sich generell beim politischen Theater. Ich finde, Theater sollte nicht dazu da sein, um besonders viele Fakten zu transportieren. Da könnte ich eher zu einem Vortrag gehen oder mir eine Reportage anschauen. Für mich bringt Theater immer eine ganz andere Erfahrung mit, die ich nicht mit der reinen Wissensvermittlung verbinde, sondern mit einem gemeinsamen Erleben, um über Dinge nachzudenken. Man wird an einer anderen Stelle abgeholt, als wenn ich nur eine Zahl lese.

Raoul Schlechter
Raoul Schlechter Foto: Bohumil Kostorhyz

Da wären wir bei dem springenden Punkt und der Frage, was Theater kann. Ist das Ihre grundsätzliche Art, Theater zu machen?

Tatsächlich nicht. Bis jetzt habe ich eher dramatische Texte inszeniert beziehungsweise Theater in dem Sinne gemacht, dass man eine in sich geschlossene, fiktive Geschichte erzählt. In diesem Fall haben wir eher viele kleine, zum Teil reale Geschichten, die durch die thematische Rahmung zu einem Ganzen werden.

Sie entwickeln eine Geschichte.

Allerdings ist es kein klassischer Dokumentartheaterabend, obwohl wir im Stile des dokumentarischen Theaters vorgehen. Wir haben versucht, die verschiedenen Mittel, die uns das Theater bietet, zu nutzen. Die Szenen sind ganz unterschiedlich.

Andererseits hat sich auch die Tradition des sozialen Dramas seit dem 19. Jahrhundert ausgiebig mit gesellschaftlichen Fragen auseinandergesetzt. Das Theater bietet also in dieser Hinsicht ein gewisses Repertoire an.

Was mich am Theater und an meinem Beruf generell reizt, ist die Möglichkeit, sich mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen. Klar kann man auch Stücke von vor 200 Jahren auf heute übertragen. Das ist durchaus legitim. Aber ich habe große Lust, mich damit zu beschäftigen, was uns gerade umtreibt. Das hier ist eine gute Gelegenheit.

Ein Schauspieltrio klärt über die Armut in Luxemburg auf
Ein Schauspieltrio klärt über die Armut in Luxemburg auf Foto: Bohumil Kostohryz

Ist es ein Vorteil, dass Sie von außen kommen und Luxemburg für Sie neu ist?

Gute Frage. Ich weiß, dass es von Marc Limpach, dem Intendanten, explizit so gewählt wurde. Er wollte eher ein Regieteam, das von außen kommt und einen unvoreingenommenen oder einen auf eine andere Art voreingenommenen Blick hat. Es ist beides. Ich musste sicherlich viel lernen. Durch den Blick von außen hat man eine neutralere Haltung.

Der Text von Claude Frisoni ist auf Französisch. Das Stück auch?

Es ist vorwiegend auf Französisch, aber geprobt haben wir auf Englisch. Es kommen aber mehrere Sprachen vor: Französisch, Luxemburgisch und Deutsch. Ich habe die Texte von Frisoni übersetzt und die Szenen auf Deutsch geschrieben. Danach habe ich sie zusammen mit dem Dramaturgen in die jeweilige Sprache übersetzt – auf Französisch oder Luxemburgisch. Die Vielsprachigkeit ist sicherlich eine Herausforderung, aber auch eine Hilfe. Dadurch bekommt man einen noch direkteren Zugang zu den Geschichten.

Inwiefern haben die Schauspieler eigene Erfahrungen mit eingebracht?

Sie waren sehr stark in den Entstehungsprozess des Stücks involviert. Man reflektiert automatisch seine eigene Position. Es war jedoch nicht unser Ziel, die privaten Geschichten der Schauspieler auf die Bühne zu bringen.

Mit Céline Camara, Clara Hertz und Raoul Schlechter. Regie: Leonie Rebentisch. Ausstattung, Kostüme und Bühnenbild: Dennis Krauß. Regieassistenz: Sara Goerres. Dramaturgie: Antoine Pohu. Technik und Licht: Pascal Klein. Eine Koproduktion vom Kasemattentheater und der „Chambre des salariés“. Weitere Vorstellungen am 8., 11., 12., 13, und 14. Februar jeweils um 20 Uhr.

Leonie Rebentisch

Die Regisseurin wurde 1992 in Frankfurt am Main geboren. Nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medien in ihrer Heimatstadt und einigen Hospitanzen am Schauspiel Frankfurt ging Leonie Rebentisch als Regieassistentin ans Deutsche Theater Göttingen, wo sie erstmals selbst Regie führte. Von 2019 bis 2023 war sie Regieassistentin am Berliner Ensemble und entwickelte parallel dazu eigene Projekte. Unter anderem führte sie Regie bei der Inszenierung „Hermann von Helmholtz – Ein Leben für die Wissenschaft“ am Hoftheater des Berliner Ensembles oder bei der Uraufführung von Charlotte Gneus „Gittersee“, aber auch bei den Brüder-Grimm-Festspielen in Hanau, unter anderem „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf.