Samstag1. November 2025

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PostkolonialismusDie Aktualität des Denkens von Frantz Fanon

Postkolonialismus / Die Aktualität des Denkens von Frantz Fanon
Fanon ist nicht nur in intellektuellen Diskussionen aktuell, sondern auch bei Demos gegen Rassismus und Neokolonialismus (hier in Paris) Foto: Flickr

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Der Psychiater, Schriftsteller und große Intellektuelle Frantz Fanon, der im Juli hundert Jahre geworden wäre, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren. Zwei Bücher von Alice Cherki respektive Philipp Dorestal würdigen den früh verstorbenen Vordenker der Dekolonialisierung.

„Auch wenn er es gewollt hätte“, wäre Frantz Fanon nicht in der Lage gewesen, von sich zu erzählen, schreibt Alice Cherki in der Einleitung zu ihrem Buch „Frantz Fanon. Ein Porträt“. Sein Leben, das waren sein Engagement, seine Kämpfe und Leidenschaften. Wie sein Zeitgenosse Ernesto „Che“ Guevara begann Fanon, 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren, seine aktive Laufbahn und nicht zuletzt revolutionäre Karriere in einem anderen, ihm fremden Land. Für die „Forces françaises libres“ (FFL) kämpfte der Sohn eines Zollinspektors, dessen Familie dem Schwarzen Mittelstand angehörte, im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger gegen Nazideutschland. Er erlebte die Befreiung des Elsass. Doch ungetrübt war seine Freude nicht. In der Armee begegnete er dem weißen Rassismus. Mussten die schwarzen Soldaten im Krieg noch den Kopf hinhalten, wurden sie bei den Siegesfeiern in den hinteren Reihen versteckt.

Später schlug Fanon einen gänzlich anderen Weg ein. Im algerischen Blida arbeitete er als Psychiater und gründete Afrikas erste sozialtherapeutische Psychiatrie. Als Sprecher des algerischen „Front de libération nationale“ (FLN) reiste er durch den Kontinent. Sein im Dezember 1961 erschienenes Buch „Les damnés de la terre“ (Die Verdammten dieser Erde) wurde als „Manifest der antikolonialen Revolution“ bezeichnet. Im selben Jahr starb Fanon im Alter von nur 36 Jahren. Erst zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten afrikanischen Länder gerade ihre Unabhängigkeit erreicht. Seine Warnungen an die kolonisierten Länder auf dem Weg in die Unabhängigkeit erwiesen sich schlussendlich als prophetisch. Und seine Analysen dienen heute dazu, die postkolonialen Konflikte der Gegenwart zu verstehen.

Drei Stunden Schlaf pro Nacht

Kürzlich ist, zum hundertsten Geburtstag Fanons am 20. Juli, die Neuausgabe der zum ersten Mal im Jahr 2000 veröffentlichten und 2011 neu bearbeiteten Biografie seiner guten Freundin und Weggefährtin in Algerien, Alice Cherki, auf Deutsch erschienen. Die 1936 in Algier als Tochter einer jüdischen Familie geborene Psychoanalytikerin sowie Psychiaterin und Schriftstellerin schildert in ihrem Buch Fanons kurzes Leben, beleuchtet Ideen und Wirken des antikolonialen Denkers und zeigt, dass Fanon die individuellen und sozialen Auswirkungen der rassistischen Unterdrückung ebenso im Blick hatte wie die Möglichkeiten, diese zu überwinden. An Anekdoten mangelt es jedoch in dem Buch, wie die Autorin zugibt. Wer sich dabei fragt, wie er in einer so kurzen Zeit so produktiv sein konnte, erfährt immerhin, dass die Kräfte zu schonen definitiv nicht seine Sache war. Als Jean-Paul Sartre, der das Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“ verfasste, einmal nach einer langen Diskussion um zwei Uhr nachts ins Bett gehen wollte, protestierte Fanon, der nur drei Stunden pro Nacht schlief.

Damals wusste er bereits, dass die Leukämie, an der er litt, weit fortgeschritten war und er nicht mehr lange zu leben hatte. Es war für ihn also ein Wettlauf gegen die Zeit. Er hatte das genannte Buch, das sein Hauptwerk wurde, innerhalb von zehn Wochen geschrieben beziehungsweise Seite um Seite diktiert. Als das Manuskript fertig war, reiste Fanon zur Krebsbehandlung in die USA. Drei Tage, nachdem er das druckfrische Exemplar seines Buches erhalten hatte, starb er am 6. Dezember.

„Wir sind nichts, wenn wir nicht zuallererst Sklaven einer Sache sind, der Sache der Völker, der Sache der Gerechtigkeit und der Freiheit.“ In Cherkis Buch wird nur wenig auf Fanons Privatleben mit Frau und Kind eingegangen. Nachdem er im Zweiten Weltkrieg für Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Nazis gekämpft hatte, studierte er Medizin und Philosophie in Lyon, beschäftigte sich unter anderem mit Freud und Hegel und las Sartres Zeitschrift „Les Temps Modernes“, bevor er als Psychiater in Algerien praktizierte. Seine Patienten waren sowohl Gefolterte als auch Folterer der Kolonialherren. Er schloss sich dem algerischen Befreiungskampf an. Psychiatrisches und politisches Engagement waren für ihn untrennbar.

Zunächst noch als Psychiater arbeitend, beteiligte er sich mehr und mehr publizistisch und politisch im Unabhängigkeitskampf. In seinem zweiten Buch „L’an V de la révolution algérienne“ (1959) kritisierte er die Kolonialpolitik und entwarf ein künftiges freies Algerien, in dem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt nebeneinander leben sollten. Das Buch wurde bald nach Erscheinen in Frankreich verboten. Doch das Verbot machte seinen Namen erst recht bekannt. Fanon entging Attentaten und legte angesichts der Gewalt, mit der die Franzosen auf den algerischen Aufstand antworteten, seinen Chefarztposten in Blida nieder. Mit seiner Familie zog er nach Tunis, wo sich damals der Sitz der provisorischen algerischen Regierung befand.

Unterdrückung und Psychopathologie

Der Psychiater Fanon hob stets die Verbindung von kultureller Unterdrückung und Psychopathologie hervor, eine der zentralen Erkenntnisse in seinem Werk, das längst ein fester Bestandteil der Postcolonial und Cultural Studies ist. Fanons Denken und Handeln war von mehreren inneren Konflikten und auch Widersprüchen geprägt. So schwankte er zwischen den Intellektuellen und der algerischen Befreiungsbewegung, ebenso wie zwischen dem politischen und militärischen Flügel des FLN. Obwohl er über die Irrwege der postkolonialen Elite in Afrika enttäuscht war, stand er ganz und gar für die afrikanische Einheit.

Die Neuausgabe von „Frantz Fanon. Ein Porträt“ ist mit einem Vorwort der deutschen Kulturwissenschaftlerin Natasha A. Kelly und deren Tochter Zaphena Kelly versehen und bei Edition Nautilus erschienen. Die beiden betonen, wie unverzichtbar Fanon für den postkolonialen Diskurs ist. Erstere, Mitgründerin des Black European Networks, Gastprofessorin der Universität der Künste Berlin und Leiterin des Instituts Black German Arts and Culture, hat in ihrem eigenen Buch „Schwarz. Deutsch. Weiblich“ (2023) ihre Vita mit der Kulturgeschichte schwarzer Frauen in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert verbunden. Bereits in Fanons erstem Buch „Peau noir, masques blancs“ (Schwarze Haut, weiße Masken, 1952) ging es um die Auswirkungen der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Einzelnen. Andererseits sprach er sich gegen einen starren Kulturbegriff aus, der sich auf Mentalitäten und Verhaltensweisen stützt. Und er lehrte, wie destruktiv sich Kolonialismus und Rassismus auf die Psyche der Kolonisierten und Diskriminierten auswirkten.

Cherki sieht „Die Verdammten dieser Erde“ als „Warnruf“ vor einer korrupten bürgerlichen Führungsschicht in den postkolonialen Ländern und einer von den Kolonisatoren übernommenen Ethnifizierung von Kultur. Die Autorin nennt Fanon zudem ein „Kind der heutigen Zeit“ und verweist dabei auf seine Aktualität. Auf seine Theorie geht sie jedoch zu wenig ein. Dabei gibt es hier nach wie vor interessante Fragen, wie zum Beispiel seine Haltung zur Gewalt. Hannah Arendt warf Fanon etwa vor, Gewalt zu verherrlichen. In dem Beitrag zu Cherkis Buch schneiden die beiden Vorwort-Autorinnen das Thema Gewalt an. Zwar greift Cherki nur recht kurz die „Notwendigkeit der Gewalt als Mittel zur Wiederherstellung menschlicher Würde“ auf. Sie spricht von einem Mittel der „Entunterwerfung“. Nichtsdestotrotz bringt uns ihr aufschlussreicher, von Andreas Löhrer ins Deutsche übersetzte „Augenzeugenbericht“ Fanon näher, der selbst nicht viel über sein Leben sprach.

Wir sind nichts, wenn wir nicht zuallererst Sklaven einer Sache sind, der Sache der Völker, der Sache der Gerechtigkeit und der Freiheit“

Frantz Fanon, Psychiater, und Schriftsteller

Beim Ersterscheinen ihres Buches meinte sie, er sei gar in Vergessenheit geraten. Im Nachwort der Neuausgabe revidiert sie diese Aussage und stellt fest, dass das Interesse an Fanons Leben und Werk gestiegen sei, Kolloquien veranstaltet werden, sein Werk in weitere Sprachen übersetzt wurde und sogar ein internationales Fanon-Netzwerk gegründet worden sei. Während Europas Hegemonie „ins Wanken“ geraten sei, tritt der Algerienkrieg wieder aus dem Schatten. „Die Verdammten dieser Erde“ ist längst zur theoretischen Grundlage des antikolonialen Befreiungskampfes geworden. Dieser ist nicht vorbei. Fanon wusste, dass mit dem Abzug der Kolonialarmeen und der formalen Unabhängigkeit noch keine Freiheit gewonnen war.

In einem weiteren, erst kürzlich erschienenen Buch zeigt Philipp Dorestal Fanon als originellen politischen Denker und erschließt dabei bislang auf Deutsch unveröffentlichte Texte zu Psychiatrie und Politik. Auch er weist darauf hin, wie aktuell die Fragen sind, die Fanon etwa über Rassismus und Identität aufwarf, und sieht den „Denker der Dekolonisation“, so der Titel des Buches, als Impulsgeber für emanzipatorisches Denken und Handeln. Geboren 1978, war Dorestal bisher als Autor unter anderem des Buches „Style Politics. Mode, Geschlecht und Schwarzsein in den USA 1943-1975“ (2014) bekannt. Der Historiker hat sich eine „nüchterne Relektüre“ vorgenommen, um sich mit Fanon auseinanderzusetzen, dem es auch immer um eine „Dekolonisation des Bewusstseins“ ging. Dies ist ihm gelungen. Dorestal widmet sich der Rezeption und Forschung zu Fanons Werk ebenso wie den Themen „Sprache und Rassismus“, dem „Blick des weißen Anderen“, dem „Leiden am Körper“ oder der „Poesie des Unterdrückten“. Sein Buch ist die ideale Ergänzung zu Cherkis Porträt.

 Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt. Edition Nautilus. Hamburg 2024. 399 Seiten. 26 Euro.

 Philipp Dorestal: Denker der Dekolonisation. Zur Aktualität von Frantz Fanon. Karl Dietz Verlag. Berlin 2025. 184 Seiten. 18 Euro

Hottua Robert
21. August 2025 - 0.31

Die Päpste dieser Erde sind die unfehlbaren Stellvertreter Gottes auf dieser Erde, dieser Erde, dieser Erde … ; die unfehlbaren Päpste dieser Erde. MfG, Robert Hottua

Hottua Robert
20. August 2025 - 13.21

"(…) Die Verdammten dieser Erde" ist längst zur theoretischen Grundlage des antikolonialen Befreiungskampfes geworden (…) Solange das Großherzogtum Luxemburg, es nicht schafft, seinen Kollaborationszwang mit dem Nazifaschismus wissenschaftlich aufzuarbeiten, solange ist der Rechtsstaat Luxemburg auf der Seite der unfreien, gefährlichen, bombenlegenden Verdammten dieser Erde. Das Ignorieren von gewalttätigen Nazi-Tatsachen ist eine unkontrollierbare globale Gefahr. MfG, Robert Hottua, verdammtes Opfer von aktueller Nazigewalt