Der Autor dieser Zeilen erfuhr zum ersten Mal von Daniil Charms vor 32 Jahren, als ihm ein Freund, der gerade mit seiner Familie aus dem umkämpften Vukovar geflohen war, das Werk des russischen Schriftstellers und Dichters empfahl, das durch und durch absurd und voll grotesken Humors ist. Ähnlich dürfte es Jakob Fedler gegangen sein, der während seines Regiestudiums in Zürich auf Charms aufmerksam wurde. Um die Jahrtausendwende schien es zumindest in Theaterkreisen einen Charms-Boom gegeben zu haben. „Er war damals durchaus populär“, sagt der Regisseur im Interview. „Danach verschwand er aber wieder in der Versenkung.“
Nicht für Fedler. Der 1978 in Köln geborene und in Wuppertal aufgewachsene Theatermacher, der als freier Regisseur bisher unter anderem in Berlin, Heidelberg, Erlangen, Weimar, Nürnberg und in seiner Heimatstadt inszeniert hat sowie für das Theater Erlangen und die Wuppertaler Bühnen Projekte mit geflüchteten Menschen entwickelt hat. Fedler hat nach eigenen Worten ein Faible für absurden und grotesken Humor. In diesem Sinne hat Charms ihn nicht mehr losgelassen. Das jüngste Projekt „Zack. Eine Sinfonie“, eine Co-Produktion des TNL und des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken, ist das jüngste Ergebnis seiner langjährigen Zusammenarbeit mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Dorien Thomsen und dem Schauspieler Wolfram Koch.
Für Letzteren ist der Soloabend wie maßgeschneidert. „Es ist unsere dritte gemeinsame Arbeit. Die Idee kam von uns selber. Dann suchten wir ein Theater, das es produzieren wollte“, sagt Fedler über den Entstehungsprozess. „Der konkrete Vorschlag kam von Wolfram. Wir begeisterten uns schnell für Charms’ Texte. Während der Covid-Pandemie, als alles stillstand, nahmen wir uns vor, die Zeit zu nutzen. Charms hat Hunderte von Kurztexten geschrieben. Es gibt nur zwei längere Stücke von ihm und Hunderte kurze Geschichten, Stücke und Gedichte. Jeder hat sie zuerst für sich gelesen. Alle ein, zwei Wochen haben wir uns dann über Zoom unsere liebsten Texte vorgelesen.“
Parallelität von Humor und Tragik
Ihn interessiere schon seit jeher die Parallelität von Humor und Tragik, erklärt Fedler. Und diese Mischung finde sich in den meisten Texten des russischen Autors. Diese passten gut in unsere Zeit, die wieder von Kriegen und dem Vormarsch autoritärer Bewegungen und Herrscher geprägt sei, und seien aktueller denn je. Charms erlebte den Übergang von einem autoritären System zum nächsten: als Kind das Ende des Zarenreiches und als Erwachsener die Stalinzeit. Er starb im Zweiten Weltkrieg in einem Leningrader Gefängnis, als die Truppen der deutschen Wehrmacht die Stadt belagerten.
Geboren 1905 als Daniil Iwanowitsch Juwatschow in Sankt Petersburg und 1942 gestorben in seiner Heimatstadt, die damals längst Leningrad hieß, unterschrieb er seine Texte mit verschiedenen Pseudonymen. Über jenen Namen, den er sich schließlich als Künstlernamen in seinen Pass eintragen ließ, gibt es mehrere Theorien: Unter anderem könnte es die Nähe zu dem französischen Wort „charme“ sein, aber auch eine Anlehnung an den von ihm bewunderten Sherlock Holmes, der auf russisch „Scherlok Cholms“ genannt wurde.
Nicht zuletzt Charms’ extravaganter Kleidungsstil und sein Auftreten erinnerten an Arthur Conan Doyles Romanfigur: etwa ein kariertes Jackett und eine Pfeife im Mund. Er pflegte Kontakte zu unterschiedlichen Gruppierungen. Doch seine Werke, ob Prosa, Gedichte oder Theaterstücke, kannten nur wenige. Seine Unangepasstheit in der Sowjetunion brachte ihm im Dezember 1931 eine erste Verhaftung ein – aufgrund der Anschuldigung, eine antisowjetische monarchistische Organisation im Bereich der Kinderliteratur gegründet zu haben und „mit sinnlosen Gedichten aufgetreten zu sein, um die Arbeiter vom Aufbau des Sozialismus abzulenken“. Dabei gab er mehrfach zu bedenken, dass er kein politischer Mensch sei. Nur sei er mit der Politik der Sowjetregierung nicht einverstanden, wie aus seinen Notizbüchern hervorgeht – und was im Stalinismus reichte, um der antisowjetischen Agitation beschuldigt zu werden. Charms wurde im Frühjahr 1932 nach Kursk verbannt. Ursprünglich hätte er drei Jahre dort bleiben sollen, doch auf Bestreben seines Vaters kam der damals 26-Jährige frei.
Antisowjetisch zu sein, bedeutete im Alltag des totalitären Staates jener Zeit vor allem stets die Gefahr von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen – sowie „nicht zugehörig zu sein, arm zu sein, schlecht gekleidet zu sein, in einem dürftigen Ambiente zu wohnen, den anderen, die über bessere Anpassungsfähigkeiten verfügen, als ein sonderbarer Kauz vorzukommen“, wie es die Lyrikerin und Essayistin Olga Martynowa in „Die Quelle, aus der wir trinken“ über die „Entdeckung des Absurden“ beschrieb. Vor allem aber bedeutete es für viele, insbesondere im Jahr des „Großen Terrors“, soviel wie ein Todesurteil. Bis Charms in sein Tagebuch schrieb: „Mein Gott, ich habe nunmehr eine einzige Bitte an Dich: vernichte mich, zerschlage mich endgültig, stoße mich in die Hölle, lass mich nicht auf halbem Wege stehen, sondern nimm von mir die Hoffnung und vernichte mich schnell, in Ewigkeit.“
Kurze Zeit darauf schrieb er: „Mich interessiert nur der ‚Quatsch‘, was keinerlei praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung.“ Das Absurde schien ihm die Rettung vor der schrecklichen Realität zu sein. Charms hatte 1927 zusammen mit Alexander Wwedenski und Nikolai Sabolozki die avantgardistische Künstlervereinigung OBERIU gegründet. Deren absurd-groteske Ideen waren Reaktionen auf das stalinistische Umfeld. Die Oberiuten, wie sich die Gruppe nannte, waren ständig den staatlichen Repressalien ausgesetzt. 1930 wurden sie als staatsfeindlich verboten. Ihr Schaffen blieb lange unbekannt.
Zur damaligen Zeit war es nicht außergewöhnlich, dass Schriftsteller als Kinderbuchautoren schrieben, so etwa Ossip Mandelstam und Boris Pasternak, aber auch Charms, obwohl er laut Überlieferungen Kinder nicht ausstehen konnte. Seine Texte waren voller Wortspiele. Er trat vor Kindern auf, und wenn er die Bühne betrat, wurde es im zuvor tobenden Saal mucksmäuschenstill. Charms sprach leise, murmelte und schien die Kinder zu verzaubern.
Als er aber, zwei Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, im August 1941 erneut verhaftet wurde, warf man ihm die Verbreitung defätistischer Propaganda vor. In einem rechtsmedizinischen Gutachten hieß es, er habe fixe Ideen und sei vermindert wahrnehmungsfähig. Die Diagnose lautete „Psychose (Schizophrenie)“, geht aus Grudrun Lehmanns Buch „Fallen und Verschwinden. Daniil Charms. Leben und Werk“ (2010) hervor. Charms wurde in die psychiatrische Abteilung des Leningrader Kresty-Gefängnisses eingewiesen, wo zuvor unter anderem Malewitsch und Trotzki eingesperrt gewesen waren. Als ihn seine Frau im Februar 1942 besuchen wollte, erhielt sie die lapidare Auskunft: „Gestorben am zweiten Februar.“ Todesursache: Unterernährung.
Die Rettung seines Werkes ist seinem engen Freund Jakow Druskin zu verdanken, der Charms’ Nachlass zuerst in einem Koffer und dann in einem Schrank unter einem Haufen alter Bücher aufbewahrte. Erst in den 60er Jahren wurden die Abschriften als sogenannte Samisdat-Literatur im Untergrund verbreitet. 1971 erschien eine englische Übersetzung. Schließlich kamen 1978 bis 1980 die ersten drei Bände der russischsprachigen Werkausgabe heraus, 1988 der vierte. Es war das Verdienst von Peter Urban (1941-2013), dem einstigen Lektor im Suhrkamp Verlag und einer der bedeutendsten Übersetzer (neben Charms unter anderem das Gesamtwerk von Tschechow, die Prosa Puschkins und Werke von Isaak Babel) russischer, serbischer und tschechischer Literatur, Charms im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht zu haben.
Bezug auf totalitäre Systeme
„Seine Komik, seine Surrealität und seine Groteske – ich finde es einfach großartig, wie er Totalitarismus beschreibt“, sagt Jakob Fedler über Charms. „Zwar bezieht er sich auf die Stalin-Zeit, aber man kann seine Texte auf sehr viele totalitäre Systeme beziehen. Ihm gelingt es wahnsinnig gut, die autoritäre staatliche Willkür zu beschreiben. Er bringt es auf den Punkt, ohne es zu erklären. Er trifft genau das Bestreben der autoritären Systeme.“ Zensiert und eingesperrt zu werden, das ist das Schicksal vieler Künstler in totalitären Systemen – ob in der Diktatur unter Stalin oder unter Putin.
So ist „Zack. Eine Sinfonie“ eine Zusammenstellung von Charms’ Texten durch Fedler und Koch. „Es handelt sich um einen modernen Entertainer, fast einen Comedian“, sagt der Regisseur. „Das Stück ist gewissermaßen seine Show. Aus den Texten ist eine durchgängige Figur entstanden.“ Eine Paraderolle, dem Mimen Wolfram Koch auf den Leib geschrieben. Und die Daniil Charms sehr nahekommt.
Vorstellungen heute und morgen um 19.30 Uhr im TNL (www.tnl.lu).

De Maart

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