Eigentlich hatte Christine Majerus nie vor, eine Profikarriere im Radsport zu machen. 2011 fuhr sie bei vielen internationalen Rennen für die französische Mannschaft GSD Gestion zwar vorne mit und auch bei Olympia 2012 in London wurde sie 21. – doch ging es der Radsportlerin viel eher darum, ihre Leidenschaft auszuleben, als wirklich mit dem Sport Geld verdienen zu wollen. Nach ihrer Grundausbildung bei der Armee beendete sie auch ihr Sport-Studium. Danach stellte sie sich Zukunftsfragen. „Ich habe mir gedacht, dass ich eigentlich gar nicht so schlecht bin“, erzählt Majerus. „Ich fragte mich: Soll ich es wirklich versuchen?“
2013 ging es zum belgischen Team Sengers, wo sie richtig auf sich aufmerksam machte: Unter anderem gewann sie den Sparkassen-Giro (1.1), holte das Bergtrikot bei der Thüringen-Rundfahrt (2.1) und fuhr bei vielen anderen internationalen Rennen vorne mit. Durch ihre offensive Art und Weise, wie die damals 26-Jährige fuhr, wurde die niederländische Mannschaft Boels-Dolmans auf sie aufmerksam. „Ich kann mich erinnern“, sagt der Sportdirektor des Teams, Danny Stam, der damals an der Unterschrift von Majerus beteiligt war: „Unser Team war auf einem niedrigen Level. Wir wollten ein Top-Niveau erreichen, so wie wir es jetzt besitzen. Wir wollten Fahrerinnen haben, die gut im Team fahren können. Und Christine war damals schon eine attraktive Radsportlerin. Sie war immer vorne dabei, man konnte immer auf sie zählen.“
Weltmeistertitel in Doha
2014 fuhr sie also für das niederländische Team, das 2010 erst gegründet wurde. Und Majerus zeigte gleich, wozu sie fähig war: Bei der Flandern-Rundfahrt (CDM) verhalf sie Ellen van Dijk und Elizabeth Deignan zum Doppelsieg, bei der Thüringen-Rundfahrt (2.1) wurde sie Gesamt-Vierte. „Ich war mir schon vor ihrer ersten Saison sicher, dass sie eine gute Rolle im Team spielen kann“, sagt der 52-jährige Niederländer, der auch heute noch Sportdirektor des Teams ist. „Christine war vom Radsport fasziniert und sie wollte in jedem Rennen das beste Resultat für die Mannschaft herausholen. Sie hat damals schon nicht nur 100 Prozent, sondern 110 Prozent für das Team gegeben.“

Das Team entwickelte sich weiter, mit ihm auch Majerus. Die Luxemburgerin war bei den Rennen immer vorne zu sehen, sei es für sie oder eben für Mannschaftskolleginnen. 2015 wurde sie jeweils Dritte bei der Energiewacht-Tour (2.2), dem Grand Prix Cycliste de Gatineau (1.1) und der Aviva Women’s Tour (2.1) sowie Zweite bei der Tour de Bretagne (2.1). Doch das Team arbeitete vor allem auf einen Titel hin: den Sieg im WM-Mannschaftszeitfahren. 2015 ließ sich Boels-Dolmans im US-amerikanischen Richmond noch um sechs Sekunden vom deutschen Team Velocio-SRAM schlagen, um es dann ein Jahr später besser zu machen. In Doha feierte Majerus 2016 ihren ersten und einzigen Weltmeistertitel.
Ein Vorbild für Jüngere
Majerus war mittlerweile nicht mehr aus dem Team wegzudenken. Sei es auf sportlicher oder auf menschlicher Ebene. „Sie war früh schon sehr komplett“, sagt Stam. „Sie wusste nicht nur viel über den Radsport, sondern hat sich auch für viele Aspekte des Lebens interessiert. Sie sorgte für eine gute Atmosphäre im Team und hat nicht immer nur über Radsport gesprochen. Sie war ein Vorbild für viele Jüngere.“
Ende des Jahres 2016 führte Boels-Dolmans das UCI-Teamranking an – und war damit offiziell das beste Team der Welt. „Als Christine bei uns unterschrieben hat, hätten wir uns niemals erträumen können, dass es so laufen wird. Wir wollten in die Top drei des UCI-Rankings, das hatten wir schnell geschafft. Christine war für diesen Erfolg ein großer Schlüssel.“ Das Team feierte in den kommenden Jahren immer wieder Erfolge, an denen auch Majerus beteiligt war. Ein für sie wichtiger Sieg war der Gesamtsieg beim heimischem Festival Elsy Jacobs (2.1) 2017. „Sie war immer schon ein guter Leader. Sie ergreift in vielen Situationen die Initiative und weiß besser als jeder andere, was man von ihr erwarten kann.“

Eine ihrer besten Saisons fuhr sie 2019. Sie gewann unter anderem die Boels Ladies Tour (2.WWT) und wurde später Elfte beim WM-Straßenrennen in Harrogate. Majerus nahm den Schwung in 2020 mit. Ihr erstes Saisonrennen beendete sie als 19. (Omloop Het Nieuwsblad 1.1), ein paar Tage später wurde sie Zweite bei Le Samyn des Dames – und schlug dabei Lotte Kopecky im Sprint. Doch die Pandemie bremste Majerus aus.
Herausforderungen ab 2020
Es folgte eine komplizierte Zeit. Doch Majerus stellte sich weiterhin voll in den Dienst des Teams, das ab 2021 SD Worx hieß. Sie verhalf der Mannschaft zu weiteren großen Erfolgen, wie bei Chantal van den Broeck-Blaaks Flandern-Rundfahrt-Sieg. 2021 wurde sie bei ihren dritten Olympischen Spielen 20. im Straßenrennen von Tokio und 21. im Zeitfahren. Doch Ende des Jahres der Schock: Eine ihrer engsten Teamkolleginnen, Amy Pieters, verunglückte beim Straßentraining der niederländischen Bahn-Nationalmannschaft im spanischen Calpe schwer. Majerus nahm das mit.
Und auch für Majerus persönlich kam Pech dazu. Nach einem Sturz bei der Simac Ladies Tour 2022 musste sie nach einer Fraktur an der Verbindung zwischen dem Schlüsselbein und dem Brustbein operiert werden. Weil ihr Körper mit einer Infektion auf den Eingriff reagierte, musste eine zweite Operation her. „Ich bin über einen Monat kein Rad mehr gefahren. Das ist mir noch nie passiert. Die Form ist total hinüber, das muss ganz von vorne aufgebaut werden“, sagte sie damals. 2023 legte sie eine Mononukleose über mehrere Wochen flach.
Eine starke letzte Saison

Doch Majerus wäre wahrscheinlich nicht Majerus, wenn sie nicht auch diesen Widerständen trotzen wollte. Für das Jahr 2024 nahm sie sich ein letztes Mal vor, sich noch ein Jahr auf den Radsport zu konzentrieren. Mit 37 ist sie 2024 für das Team so wertvoll wie zu ihrer besten Zeit. Sie liest die Rennen, sie kennt die Schlüsselstellen, sie weiß, wie man die größten Wettbewerbe gewinnt. Hinzu kommt, dass sie sogar noch persönliche Ergebnisse einfährt: Die Tour of Britain (2. WWT) beendete sie als Dritte hinter Anna Henderson (Team Great Britain) und der Gesamtsiegerin, ihrer Teamkollegin Lotte Kopecky.
„Sie hat eine wunderbare Karriere hinter sich“, sagt Stam. „Aber ich denke, sie hätte mehr gewinnen können. Ohne sie wäre das Team aber niemals auf dem Level, auf dem es jetzt ist. Sie hat Weltklasse-Niveau. Es gibt niemanden im Peloton, der ein Team so führt, wie sie es tut. Ich denke, dass sie rein physisch noch ein, zwei Jahre auf diesem Niveau fahren könnte. Aber nach über 20 Jahren auf dem Rad muss sich im Leben irgendwann was ändern. Du steigst jeden Tag aufs Rad, leidest und leidest. Das schlägt irgendwann auf das Mentale. Ich denke, dass sie noch fahren könnte. Aber ich denke auch, dass sie bereit für einen anderen Schritt in ihrem Leben ist.“ Majerus, die an vier Olympischen Spielen teilnahm und siebenmal Luxemburgs Sportlerin des Jahres wurde, hat es geschafft, sich in die absolute Weltspitze des Damen-Radsports zu arbeiten. „Sie hinterlässt im Team eine große Lücke“, sagt Stam. „Es wird unmöglich, eine neue Christine zu finden.“
Eine Karriere in sechs Etappen
Zum Karriereende von Christine Majerus am kommenden Sonntag blickt das Tageblatt in einer sechsteiligen Serie auf verschiedene Aspekte der Karriere der Radsportlerin zurück:
1. Etappe (8. Oktober 2024): Die Anfänge
2. Etappe (9. Oktober 2024): Der Weg an die Weltspitze
3. Etappe (10. Oktober 2024): Die Liebe zum Cyclocross
4. Etappe (11. Oktober 2024): Reaktionen von langjährigen Wegbegleitern
5. Etappe (12. Oktober 2024): Ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit
6. Etappe (14. Oktober 2024): Das große Interview
Simac Ladies Tour: Majerus zum Auftakt 44.
Am Dienstag hat Zoe Bäckstedt (Canyon//SRAM Racing) den Auftakt der Simac Ladies Tour (2 . WWT) gewonnen. Im Zeitfahren über 10,1 Kilometer war sie sieben Sekunden schneller als die beiden Niederländerinnen Lieke Nooijen (Visma Lease a Bike) und Ellen van Dijk (Lidl-Trek). Vierte wurde Lotte Kopecky (SD Worx Protime) auf zehn Sekunden. Christine Majerus (SD Worx Protime) war 1:03 Minute langsamer und wurde 44. Am Mittwoch folgen 154,8 flache Kilometer von Coevorden nach Assen. Das Etappenrennen endet am Sonntag.
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