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Forum / Der Krieg formt seine Leute
Palästinenser betrauern die Opfer eines israelischen Bombardements vor der Leichenhalle des Nasser-Krankenhauses Foto: dpa/Mohammed Talatene

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Den folgenden Artikel habe ich als Editorial für die Zeitschrift „Paroles“ nach dem Attentat vom 11. September 2001 geschrieben. Ich finde, über die heutige Entwicklung im Nahen Osten könnte man einen ähnlichen Kommentar schreiben. Nur wenige Worte müsste man ändern oder ergänzen: Israel (gemeint: die Regierung) statt USA, statt der Kellnerin der pazifistische Kibbuz-Bewohner, ein israelischer statt eines US-Piloten und statt der Selbstmordattentäter im Flugzeug die Hamas-Verbrecher mit dem Gottesruf. Und natürlich eine kompromisslose Verurteilung des Antisemitismus.

„La tragédie engendrait la tragédie, les victimes d’autres victimes. La folie des hommes avait sans cesse besoin d’un bouc émissaire.“ (Chantal Pelletier, „Le chant du bouc“)

Alle möglichen Reaktionen auf das Verbrechen des 11. September haben wir gehört: echte Trauer und Betroffenheit, neues Kriegsgeschrei, differenzierte Analysen und die üblichen manichäistischen Kategorien, auf allen Seiten.

Nach dem 11. September hieß es, nun sei die Welt in ein neues Stadium getreten, nichts sei mehr wie bisher. Ich finde, die Welt sieht heute schrecklich alt aus.

Ein atavistisches Massenverbrechen, mit einer atavistischen Ideologie begründet, von Menschen mit atavistischem Verhalten ausgeführt. Mit eingeplant die gewaltsame Gegenreaktion, um die Welt in einem Glaubenskrieg zu spalten. Wie eh und je natürlich hinter dem Glauben die Macht- und Wirtschaftsinteressen.

Gewalt gegen Gewalt

Die Reaktion blieb auch nicht aus: Gewalt gegen Gewalt – wenn auch weder in ihren Zielen noch in ihrem Ausmaß vergleichbar. Aber auch mit ihren Opfern an Menschenleben. Mit ihrer Logik von Macht und Zerstörung. Mit ihren fragwürdigen Allianzen, wie in den alten Geschichtsbüchern. Und die, wie dort, auch wieder auseinanderbrechen und neue Fronten entstehen lassen.

Leider können auch dort, wo man die politische Linke verorten möchte, einige der Versuchung nicht widerstehen, so etwas wie Genugtuung über eine verdiente Strafe (für wen?) anzudeuten und ihre beruhigenden Gewissheiten und Etiketten in der Gunst der Stunde aufzufrischen.

Es gibt für die Ermordung Tausender von Menschen keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung. Auch keine implizite. Wie sehr es immer geboten ist, auf die Ungerechtigkeiten in der Welt, auf die Arroganz der Macht (vor allem der USA) aufmerksam zu machen und auf Veränderung hinzuwirken – ich weiß nicht, wie man dies alles zu dem Massaker in Verbindung setzen sollte. Mit einer Kausalbeziehung? Weil Armut in der Welt herrscht, kam es zu diesem Anschlag, denn der Terrorismus ist der Krieg der Armen? Gehören denn die Täter überhaupt zu den Armen der Welt? Und unterstellt diese Verbindung nicht, dass nicht-reiche Menschen eher zu dieser Art von Gewalt neigen als die Wohlhabenden? Also sind die Armen doch schließlich die armen Bösen? Brechts Metapher von dem Fluss, der gewaltsam über die (so nicht genannte) Gewalt der Dämme bricht, war nicht so gemeint. Höchstens wäre die Aussage zu akzeptieren, dass ungerechte Zustände, ungelöste Konflikte diesem Terror als Vorwand dienen und die Rekrutierung von Exekutanten erleichtern.

Die USA wurden getroffen, hieß es. Einmal als Begründung einer Art von Vasallentreue, manchmal als Andeutung, sie hätten es sich also gesucht oder gar verdient. „Die“ USA wurden aber nur in einem höchst abstrakten Sinn getroffen. Konkret getroffen wurden Tausende von Individuen. Etwa die Kellnerin arabischer Herkunft oben im Restaurant des WTC und ihre seither untröstlichen Kinder und Eltern. Was haben sie mit der Arroganz der Macht zu tun oder mit dem Elend der Welt, außer dass sie es selbst erleben?

„Infinite Justice“ sollte zunächst der Codename für den Vergeltungsschlag werden. Unendliche Gerechtigkeit gibt es nicht, und wer sie erzwingen will, landet selbst beim Terror. „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ heißt ein Roman des dänischen Schriftstellers Peter Hoeg. Die düstere, kalte Internatsgeschichte schildert metaphorisch, wie die Utopie einer endgültigen Besiegung alles Dunklen, die Unterdrückung aller Konflikte und aller Zweifel, die endgültige Unterordnung der ganzen Welt unter eine Norm zu einem totalitären, menschenfeindlichen System führen muss. Die Erfahrungen unseres „Jahrhunderts der Extreme“ (Eric Hobsbawm) bestätigen es.

„Die“ westliche Zivilisation gibt es nicht

„Der Krieg formt seine Leute“, schreibt Christa Wolf in ihrer „Kassandra“ – und er droht, sie auf allen Seiten gleich zu formen: „Wir sollten werden wie der Feind, um ihn zu schlagen.“ Genau dort liegt, so fürchte ich, die Gefahr einer Einordnung der Verbrechensbekämpfung und -bestrafung in eine Rhetorik des Krieges (und gar noch des Krieges der Zivilisationen!).

Berlusconi hat mit seinem bösblöden Spruch zur Überlegenheit der westlichen Zivilisation offen gesagt, was viele denken – und was im Übrigen auch in den ersten Sprüchen aus den USA selbst zum Ausdruck kam. Doch was soll man darauf antworten? „Die“ westliche Zivilisation gibt es nicht. Und wenn doch, dann gehören zur westlichen Zivilisation auch die Massaker in den Kolonien, Auschwitz, Hiroshima und My Lai. Kulturen sind komplexe, widersprüchliche, dynamische Gebilde – und immer auch äußeren Einflüssen ausgesetzt.

Was aber auch nicht heißen kann, alle „kulturellen“ Phänomene seien gleichwertig. So sehr der Begriff des Fortschritts einer kritischen Analyse bedarf – auf den Gedanken, dass die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, dass der demokratische Rechtsstaat (mit allen möglichen Einschränkungen …), dass der Sozialstaat (id.), dass die Abschaffung der Todesstrafe Fortschritte sind – auf diesen Gedanken möchte ich nicht verzichten und auch nicht auf den, dass es sich lohnt, für weitere Fortschritte dieser Art in der ganzen Welt zu kämpfen und den Regressionstendenzen zu widerstehen.

Zu dieser Art von Fortschritten gehört m.E. auch die Trennung von Recht und Moral (natürlich keine absolute) und die Prädominanz des Rechtes (auch keine absolute) im Rechtsstaat. Schon im Balkankrieg wurde beides auf höchst bedenkliche Weise vermischt, gar das Recht der Moral untergeordnet: weil die Moral es gebietet, darf auch das Recht übergangen werden – wir sind im Namen einer Moral (welcher?) auf dem Weg zu rechtlosen Zuständen. Und werden darin eben denen gleich, die wir bekämpfen wollen. Die Selbstmordtäter in den Flugzeugen trugen religiöse Schriften bei sich. Gott ist mit ihnen. Für ihre moralische, uneigennützige Tat sollen sie im Jenseits belohnt werden. Was soll da der schnöde Gedanke an das weltliche Recht? Und an die Opfer?

Hoffentlich werden die Täter gefasst und zur Rechenschaft gezogen. Hoffentlich gelingt es, den Terrorismus zurückzudrängen. Aber so weit darf es nicht kommen, dass ein amerikanischer oder europäischer Pilot mit der Bibel im Cockpit, in ähnlicher Vergessenheit von Recht und Opfern, in einem moralisch begründeten Vergeltungsschlag auch noch die Schwester der WTC-Kellnerin irgendwo im Osten zu Tode trifft.

André Hoffmann ist ein ehemaliger Abgeordneter und Escher Schöffe. Nach seinem Austritt aus der KPL 1993 war er für „déi Lénk“ politisch aktiv.
André Hoffmann ist ein ehemaliger Abgeordneter und Escher Schöffe. Nach seinem Austritt aus der KPL 1993 war er für „déi Lénk“ politisch aktiv. Foto: Editpress/Didier Sylvestre
Jean-Marie Grober
16. November 2023 - 14.12

"La bêtise humaine est éternelle et incommensurable!" Seit Bestehen der Spezies Homo sapiens wird dieses Prinzip tagtäglich bestätigt. Wir können wohl nicht anders, wir müssen unsere Welt und damit uns selbst zerstören. Eine Frage sei mir erlaubt: "Wie kann man an einen allmächtigen Gott-Schöpfer glauben, der es zulässt, dass seine Schöpfung von einer von ihm erschaffenen Spezies zugrunde gerichtet wird, und dabei tatenlos zusieht und es geschehen lässt?"

JJ
16. November 2023 - 9.14

"Tantum Religio potuit suadere malorum." Seit tausenden Jahren gültig. Radikaler Fanatismus und Indoktrinierung haben ein riesiges Potential der Zerstörung. Wenn dann noch die Führer der Nationen Schwachsinnige sind( Bush,Trump,Netanjahu,Bin Laden,Assad,Saddam,Kim...die Liste ist endlos) dann kommt die Welt nie zur Ruhe. Wir werden es wohl nie schaffen,in Gottes Namen.