Der Kampf gegen das „Kellnerinnen-Unwesen“

Der Kampf gegen das „Kellnerinnen-Unwesen“

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In ihrem Buch „Intersektionalität und Gouvernementalität. Die Regierung von Prostitution in Luxemburg“ analysiert die Autorin Dr. Heike Mauer das Aufkommen von Prostitution in Luxemburg und den Kampf gegen das „Kellnerinnen-Unwesen“. Wir haben uns mit ihr über die Ergebnisse ihrer Forschung unterhalten.

Tageblatt: Können Sie den historischen Kontext der damaligen Zeit kurz beschreiben?
Dr. Heike Mauer: Die Prostitution in Luxemburg ist ganz eng mit der Industrialisierung in Verbindung zu bringen. Früher, als die Minette-Region noch ländlich war, erschien die Prostitution in den Augen der Behörden noch nicht als Problem. Mit der Industrialisierung tauchte das Problem dann gesellschaftlich auf. Mit der Industrialisierung gingen Verstädterungsprozesse einher und es fand ein umfassender gesellschaftlicher Wandel statt – angefangen mit der Wohnungsnot und dem Auftauchen von Arbeitsmigranten und –migrantinnen. Die Prostitution ist in diesem Milieu von den Polizeibehörden, der Öffentlichkeit, dem Parlament und den Zeitungen lokalisiert worden. Das sind bestimmte Kneipen im Arbeitermilieu und Frauen, die als Dienstmädchen und Kellnerinnen arbeiten, d.h. die Prostitution wurde ganz eng mit der wirtschaftlichen Tätigkeit und dem öffentlichen Auftreten von Frauen sowie der Migration verknüpft.

Die Geschlechterordnung hat also begonnen, sich zu verändern?
Mit der Industrialisierung wurde ein faktischer Wandel der bürgerlichen Geschlechterordnung vollzogen. Denn wenn Frauen in den Cafés oder Kneipen als Köchinnen, Dienstmädchen oder Kellnerinnen gearbeitet haben, dann entsprachen sie nicht dem normativen Ideal, dass sie ihren Männern, die in der Öffentlichkeit arbeiten, Geld verdienen und Politik machen, zu Hause das Heim bereiten. Das Idealbild, wie eine bürgerliche Familie auszusehen hat, und die Geschlechterordnung, also welche Rollen Männer und Frauen in der Gesellschaft ausfüllen sollten, hat in diesem Milieu eben nicht so funktioniert. Der Verdacht der Prostitution kam schnell auf.

Wie war die juristische Sachlage?
In Luxemburg herrschte eine spezielle Situation: Die Prostitution war ein Straftatbestand. Es war nicht – wie in den umliegenden Ländern, sprich Frankreich oder dem Deutschen Reich – möglich, eine durch die Polizei kontrollierte Bordell-Prostitution zu betreiben. In den Nachbarländern von Luxemburg bestanden lokale Verordnungen. Es wurden bestimmte Regeln darüber aufgestellt, wie man sich im Bordell als Besitzerin oder Prostituierte zu verhalten hatte. Das gab es in Luxemburg überhaupt nicht. Deswegen gab es hierzulande die Vorstellung, dass die Ausländerinnen absichtlich nach Luxemburg kamen, weil sie sich im Ausland der polizeilichen Kontrolle entziehen wollten. Das klingt erst mal widersinnig, weil es im Ausland formal unter bestimmten Umständen möglich war, Prostitution auszuüben. Das brachte jedoch eine ausführliche Kontrolle durch die Polizei mit sich. In den Bordellen konnte die Polizei Frauen etwa zu medizinischen Untersuchungen zwingen.

Wie sah es denn mit der Strafverfolgung hierzulande aus?
Der gesellschaftliche Diskurs in Luxemburg war, dass sich die ganzen Ausländerinnen hier heimlich prostituierten, weil es anders verfolgt wurde. Die strafrechtliche Verfolgung gestaltete sich jedoch schwierig. Es zieht sich durch die Quellen, dass alle Polizeibehörden – die Staatsanwaltschaft bis hin zur Regierungskommission, die es eine Zeit lang gab – immer gesagt haben, es könne faktisch nicht verfolgt werden, weil die Mittel fehlten. Es gab beispielsweise keine Zeugen, die bereit waren, vor Gericht auszusagen. Deswegen herrschte die Wahrnehmung, die Luxemburger Gesetzeslage begünstigte es, dass ausländische Prostituierte nach Luxemburg kamen.

War das denn der Fall?
Die Zahlen sagen, dass dies ein ganz entscheidender Grund war, um Frauen aus dem Großherzogtum auszuweisen. Doch inwieweit diese Prostitution ausgeübt haben, ist nicht bekannt. Es steht ein großes Fragezeichen dahinter. Meine Arbeit zeigt nämlich, dass sich der Verdacht der Prostitution in vielen Fällen auf einer ganz dünnen Grundlage stützt. Oft wurde gesagt: Das ist eine Frau, die in einer als „Animierkneipe“ bekannten und gesellschaftlich nicht gut angesehenen Gaststätte wohnt. Sie bedient die Gäste und man weiß nicht genau, woher sie ihr Geld bekommt. Die Polizei konnte dann nicht sicher sagen, nur ganz stark vermuten, dass in dem Fall Prostitution ausgeübt wird. Ich konnte in meiner Arbeit aufzeigen, dass sich diese Vorgehensweise von einem tatsächlichen Tatbestand loslöst. Die Ausweisung auf Verdacht wurde immer stärker durchgesetzt. Doch wie es tatsächlich mit Verurteilungen ist, darüber kann wenig bis gar nichts gesagt werden, denn diese Akten sind bisher noch nicht zugänglich.

Der Kampf gegen das „Kellnerinnen-Unwesen“ stand um 1900 im Zentrum einer Kampagne gegen Prostitution im Großherzogtum.
Damals wurden verschiedene Unterschriftenkampagnen von Luxemburger Frauen gegen dieses „Kellnerinnen-Unwesen“, wie sie es genannt haben, ins Leben gerufen. Der katholische Frauenverein war da sehr aktiv um 1900 und hat eine Kampagne gegen diese sogenannten „Animierkneipen“ gestartet. Zwischen 1911 und 1915 haben 3.000 luxemburgische Frauen unterschrieben. Das ist schon sehr beachtlich und es steht im Einklang mit einer ganzen Reihe von Initiativen aus der Luxemburger Zivilgesellschaft, die sich um die Dienstmädchen gekümmert haben.

Wie sahen diese Aktivitäten aus?
Der Mädchenschutz- und der katholische Frauenverein haben Serviceangebote wie etwa Dienstmädchenheime und Stellenvermittlungen auf die Beine gestellt, mit dem Ziel, den Luxemburger Frauen zu helfen. So hatten diese die Möglichkeit dazu, sich anständige Beschäftigungen zu suchen. Dies passierte beispielsweise durch die Vermittlung an anständige Haushalte und Kochschulen sowie von Bildungs- und Freizeitangeboten. Man ging davon aus, dass, wenn Frauen in der Lage sind, für ihren Mann einen guten Haushalt zu führen, dieser weniger dazu geneigt ist, die Abende in Kneipen zu verbringen, wo er dann möglicherweise verführt wird.

Warum haben Sie sich gerade mit diesem Thema befasst?
Diese Arbeit ist Teil des Forschungsprojektes „Partizip“, bei dem die Partizipation von marginalisierten Bevölkerungsgruppen in Luxemburg untersucht worden ist. Ich bin von Haus aus Politikwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin. Es gab bisher noch nicht so viele Arbeiten über marginalisierte Frauen in Luxemburg. Deswegen ist es spannend, Neuland zu betreten und Quellen zu studieren, die vorher noch nicht die Würdigung erfahren haben, die sie vielleicht verdienen. Es ist zudem interessant, sich mit der Frage zu befassen, welche Parallelen und Unterschiede es zur heutigen Debatte gibt. Und es ist aufregend, zu sehen, was sich in der gesellschaftlichen Debatte verschoben hat und was über die vielen Jahrzehnte hinweg doch sehr ähnlich geblieben ist.


„Animierkneipen“ und Geschlechtskrankheiten

Die sogenannten „Animierkneipen“ waren Wirtschaften, in denen Frauen bedient haben und wo die Prostitution heimlich ausgeübt wurde. Die Kellnerinnen wurden sowohl in Polizeiberichten als auch in der Öffentlichkeit mit der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten assoziiert. Der Abgeordnete Lacroix (von 1900-1915 Parlamentsmitglied) bezeichnete etwa die Anzahl von Frauen, die „in unserem kleinen Lande“ wegen Geschlechtskrankheiten festgenommen wurden, als geradezu „angsteinflößend“.

Ähnlich konstatiert der „Verein für Volks- und Schulhygiene“ in einem Beitrag über Prostitution und „Animierkneipen“ die Zunahme „wegen Geschlechtskrankheiten polizeilich sequestriert(er)“ Frauen, die hauptsächlich aus Deutschland und Luxemburg kämen. Waren in den Jahren von 1898 bis 1908 lediglich 110 Frauen betroffen, so waren es 1909 und 1910 bereits 82.


Wer ist eigentlich Ausländerin?

Der gesellschaftliche Diskurs über Prostitution zu der Zeit drehte sich oft darum, dass die ausländischen Prostituierten nach Luxemburg kamen, um ihr Gewerbe dann heimlich auszuüben.

Dr. Heike Mauer konnte in ihrer Arbeit jedoch zeigen, dass die Kategorie der ausländischen Frauen fluide war. So gab es unter ihnen jene, die Luxemburger geheiratet und dadurch die luxemburgische Staatsbürgerschaft erhalten haben, so wie das bei Cathérine A. der Fall war. Umgekehrte Fälle gab es auch: Pauline B. stammte eigentlich aus Luxemburg. 1910 hat sie einen Deutschen geheiratet und dadurch die luxemburgische Staatsbürgerschaft verloren.

In der Praxis verwischte sich die Trennung zwischen Frauen aus dem In- und Ausland.
Darüber hinaus haben die Behörden nie alleine agiert bzw. sind erst aktiv geworden, weil aus der Bevölkerung Personen denunziert worden sind. Dadurch gab es dann einen Anlass, um Ermittlungen aufzunehmen.


Der Fall von Cathérine A.

Die Frauen haben sich oft nicht einfach ihrem Schicksal ergeben, sondern versucht, es aktiv mitzugestalten – auch wenn die Behörden oft am längeren Hebel saßen.
So auch Cathérine A. Sie hat sich jahrelang mit den Behörden auseinandergesetzt. Ihre Ausweisung wurde 1914 mit der Begründung beschlossen, dass sie sich nur zum Schein als Schneiderin ausgebe und in Wirklichkeit als Prostituierte arbeite. Durch mehrere anonyme Schreiben wurde sie als Prostituierte denunziert. 1915 wurde sie ausgewiesen. In ihrem Fall schalteten sich luxemburgische Anwälte ein, um die Aufhebung der Ausweisung zu erwirken. Der Ausweisungsbeschluss wurde erst 1919 aufgehoben, nachdem sie nach der Heirat mit einem Luxemburger selbst zu einer Luxemburgerin wurde.

„Hier in Deutschland ist es mir unmöglich, eine Stelle zu finden. Ladenmädchen braucht man jetzt keine. Um als Bürofräulein in einem Privatgeschäft angestellt zu werden, bin ich noch nicht bewandert. Eine Stellung als Dienstmädchen kann ich auch nicht kriegen, weil ich keine Zeugnisse besitze, man weist mich einfach ab oder man wendet sich um Auskunft an die Polizei und dann ist wieder dieser verhängnisvolle Ausweis, welcher mir alle Türen verschließt.“
(Police des étrangers No. 50856; Schreiben von Cathérine A. an die Generalstaatsanwaltschaft in Luxemburg, 1915)

„Die Genannte steht in sittlicher Hinsicht in einem üblen Rufe, deren Erwerb die geheime Prostitution bildet. Dieselbe war früher Kellnerin in den als Animierkneipen bekannten Schenken Busse, Stock und Wagener-Welschbillig aus hiesigem Bahnhofsviertel. In letzter Zeit hat sie sich auf ein Zimmer zurückgezogen, um so die Prostitution unauffälliger ausüben zu können. Zum Schein gibt sie sich als Näherin aus, obschon sie das Näherinnenhandwerk nie erlernt hat. In Wirklichkeit übt sie nach wie vor die erwerbsmäßige Unzucht aus und besucht zu diesem Zwecke noch stets die Schenke Stock.“
(Police des étrangers No. 50856; Schreiben der Polizei Hollerich, 1914)


Der Fall von Pauline B.

Pauline B. stammte aus Luxemburg. Durch ihre Heirat mit einem Deutschen hat sie jedoch die luxemburgische Staatsbürgerschaft verloren und sollte eigentlich ausgewiesen werden.
Sie hat jedoch immer angegeben, dass es ihr Mann gewesen sei, der sie zur Prostitution gezwungen hatte. Schließlich hat sie sich von ihm getrennt. Doch für die Behörden galt sie deswegen als Frau, die ihren Mann verlassen und sich prostituiert hat. Deswegen konnte sie für die Behörden auf keinen Fall in Luxemburg bleiben.
In dem Sinne wurde Pauline B. gegenüber bis zur Zwischenkriegszeit argumentiert. Und das, obwohl es zu der Zeit diverse Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht gegeben hat und Pauline B. die Luxemburger Staatsangehörigkeit längst wieder hätte wiedererlangen können.

„Schon während meines Aufenthaltes in Esch drang mein Mann stets, dass ich mich andern Männern für Geld hingeben sollte. Von dieser Zeit an ging er wöchentlich mehrmals und jeden Sonntag mit mir in die hiesigen Schenken (…) In Metz arbeitete mein Ehemann sozusagen gar nicht. Ich musste die ganze Familie (…) durch die Prostitution ernähren.“
(ANLux: Police des étrangers Nr. 338924, Bericht der Fremdenpolizei Esch, 1915)

Gesuchstellerin ist zu Keispelt geboren, mithin Luxemburgerin, durch Heirat besitzt sie jetzt die deutsche Nationalität. Gesuchstellerin hat noch viele Verwandte in Luxemburg und ist tagtäglich von Heimweh gequält, so weit von ihren Verwandten entfernt zu sein. Gesuchstellerin bittet untertänigst den Herrn Generalstaatsanwalt, den Ausweisbeschluss gegen sie aufzuheben, damit sie wieder in ihr Heimatland zurückzukehren vermag …
(ANLux: Police des étrangers Nr. 338924, Brief von Pauline B. an die Generalstaatsanwaltschaft, 1924)