Der etwas andere Karrieretyp

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Tageblatt-Chefredakteur Dhiraj Sabharwal hat Berlins Bürgermeister Michael Müller zum Gespräch getroffen.

Tageblatt-Chefredakteur Dhiraj Sabharwal hat Berlins Bürgermeister Michael Müller (53) zum Gespräch getroffen. Müller ist einer der wenigen deutschen Spitzenpolitiker, die kein Abitur haben. Der Regierende Bürgermeister Berlins erzählt im exklusiven Tageblatt-Interview, weshalb seine Erfahrung als Handwerker auch Vorteile hat – und er eine Neuauflage der GroKo kritisch sieht.

Tageblatt: Luxemburg steht oft in der Kritik. Wie sehen Sie das Großherzogtum politisch?
Michael Müller: Luxemburg ist allein durch die europäischen Institutionen ein wichtiger Anziehungspunkt für die Begegnung der unterschiedlichen politischen Ebenen. Man trifft sich auch in Luxemburg zu wichtigen Gesprächen. Die Außenminister treffen sich hier zu Dialogen. Es ist wichtig, diesen durchaus auch politisch neutralen Rahmen im Herzen Europas zu haben. Das bedeutet etwas in diesen politischen Zeiten.

Was genau?
Es gibt ganz konkrete Kooperationen im Kulturbereich. Viele Unternehmen aus Berlin, Deutschland, Luxemburg oder Frankreich sind hier präsent. Wir erleben immer stärker, wie wichtig es ist, dass die europäischen Partner zusammenrücken. Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, in diesem freien und offenen Europa der letzten 70 Jahre zu leben. Man muss dafür gemeinsam kämpfen. Ich glaube, da sind wir gute Partner.

Sie waren praktizierender Handwerker. Wie viel hilft Ihnen diese Erfahrung als Politiker?
Was Sie ansprechen, hat etwas mit meinem persönlichen Lebensweg zu tun. Ich habe mit meinem Vater 15 Jahre lang in einer kleinen Buchdruckerei gearbeitet. So wie Gutenberg mit Bleilettern. Natürlich ärgere ich mich heute mitunter auch, dass ich kein Abitur und kein Studium habe. Aber mir hat das geholfen, dass ich wirklich einen anderen Weg gegangen bin.

Inwiefern?
Ich musste mich durchkämpfen. Ich habe aber dafür eine andere Arbeitswelt kennengelernt. Das in die politische Debatte mit einzubringen, ist hilfreich. Gerade jetzt, wo sich die Arbeitswelt durch Digitalisierungsprozesse wieder verändert. Es entstehen neue Berufe, neue Ausbildungsgänge. Diese Lebenserfahrung einfließen zu lassen, ist inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr. Auch nicht mehr in der SPD als Arbeiterpartei.

Ist die SPD denn noch eine Arbeiterpartei?
Es ist eine Partei für Arbeiter, aber nicht mehr wirklich von Arbeitern. Da hat sich etwas verändert. Insofern gehe ich inzwischen mit meiner Biografie ganz bewusst um.

Sie sind ein Paradiesvogel in Ihrer Partei.
Ja (lacht). Ich kenne nur noch drei SPD-Politiker auf dieser Ebene, die nicht diesen selbstverständlichen akademischen Weg gegangen sind: Martin Schulz, Kurt Beck und mich. Ich glaube, dass aber gerade das in der SPD dazugehört. Das gesamte Lebensspektrum abbilden, wenn man für alle Politik machen will. Dann muss man auch diese Erfahrung einbringen.

Sie wurden in den Parteivorstand der Bundes-SPD gewählt. Welche Ziele haben Sie?
Es ist als regierender Bürgermeister von Berlin sicherlich meine Aufgabe, meine Erfahrung zur Situation der sich verändernden, wachsenden Städte, der internationalen Metropolen, des Wohnungsbaus und der Integrationsthemen mit einzubringen.

Die aktuelle Wirtschaftsordnung vereinfacht z.B. innerbetriebliche Ausbildungen nicht wirklich. Kann jemand noch heute den sozialen Aufstieg schaffen wie Sie?
Das ist nicht einfach. Sie haben natürlich recht, dass unser Wirtschaftsleben inzwischen von der Globalisierung und Internationalisierung derart geprägt ist, dass jedes Unternehmen einfach sagt: „Ich kann auch woanders produzieren oder einkaufen.“ Es gibt allerdings eine Situation, die ich nutze. Berlin ist eben auch eine Stadt der Wissenschaft. Was wir jetzt an neuen Technologien für die zukünftige gute Entwicklung unseres Zusammenlebens, für erneuerbare Energien und neue Mobilitätskonzepte brauchen, hat alles mit der Schnittstelle Wissenschaft-Digitalisierung-Wirtschaft zu tun. Diese Kompetenz können wir als Politik einbringen.

Sie stellen in Berlin Forderungen an die Unternehmen.
Ja, wenn ein Unternehmen den Standort Berlin nutzen will als Repräsentanz für ein City Lab oder einen Inkubator, erwarte ich, dass dort mehr passiert, als einfach nur da zu sein. Damit muss auch Folgendes verbunden sein: Ausbildung, das Schaffen von Arbeitsplätzen oder zum Beispiel das Pflegen des alten Industriestandorts. Das ist zurzeit bei Siemens eine Diskussion. Ich sage deswegen immer: Man begegnet sich mindestens zwei Mal. Ich möchte etwas von einem Unternehmen, die Unternehmen wollen etwas von uns. Man muss sich da auf Augenhöhe begegnen.

Es könnte zu einer Neuauflage der GroKo kommen. Freude oder Skepsis?
Ich sehe das sehr kritisch. Wir haben in dieser Koalition gemeinsam ein furchtbares Wahlergebnis eingefahren: Die CDU hat acht, wir fünf Prozent weniger. Das ist ein deutliches Misstrauen der Wähler dieser Koalition gegenüber. Deswegen sehe ich auch ein „weiter so“ sehr kritisch. Ich habe das auch so auf dem Parteitag formuliert.

Was stellen Sie sich vor?
Ich glaube, dass es richtig ist, dass die SPD Sondierungsgespräche mit der CDU führt. Dazu hat uns der Bundespräsident aufgefordert. Es muss aber in den Gesprächen mehr geben als das Ausloten einer Atmosphäre, ob man zusammenarbeiten kann oder nicht. Die Themen müssen eine Rolle spielen: Wie gehen wir mit der gebührenfreien Bildung von der Kita bis zur Hochschule um? Wie mit der Bürgerversicherung, dem Einwanderungsgesetz, dem sozialen Wohnungsbau? Es gibt so viele Themen, die uns Sozialdemokraten wichtig sind. Die müssen deutlich genannt werden.

Welche Erwartungen hätten Sie an die Neuauflage der GroKo?
Ich glaube, es muss für die nächste Bundesregierung deutlich werden – wenn es denn wieder eine schwarz-rote sein soll –, dass in der politischen Arbeit verstanden wird, dass sich dieses Land und die Erwartungshaltung der Deutschen verändern – und dass sich dies eben in der Politik widerspiegelt. Ein solches Thema ist die Einwanderung. Die Immigration gehört zu unserem Land. Ohne wäre es gar nicht mehr denkbar. Das muss man auf eine andere Basis stellen. So wie die Ehe für alle eine Rolle gespielt hat. Das Land hat sich verändert und es war in dieser Frage dringend nötig, dass die Politik reagiert hat.

Wie steht es um die sozialen Missstände in Ihrem Land?
Es gibt auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland soziale Missstände. Deswegen ist die Bürgerversicherung ein wichtiger Punkt. Das muss sich im Koalitionsprogramm widerspiegeln. Der Koalitionsvertrag muss die Herausforderungen der Zukunft und die sozialen Probleme aufnehmen. Wenn die CDU dazu nicht bereit ist, kann man keine Koalition machen.

Die AfD hat bei den letzten Wahlen kräftig zugelegt. Wie gehen Sie mit ihr um?
Jeder muss seinen Weg finden, bei dem er sich in der politischen Auseinandersetzung auch wohlfühlt. Ich mache das im Berliner Parlament wie folgt: Ich reagiere nicht direkt auf oft tagespolitische Themen, die die AfD in den Vordergrund stellt, um nicht in den direkten Austausch mit AfD-Funktionären zu geraten. Es gibt aber durchaus Situationen, wo ich Grenzen ziehe und sage: „Bis hierhin und nicht weiter.“

Zum Beispiel?
Das sind oft Integrationsthemen, die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Damit konfrontiert uns die AfD immer.
Bei solchen Punkten geht es an die Werte des deutschen Grundgesetzes, unseres Zusammenlebens. An diesen Stellen muss man Stoppschilder aufzeigen. Da gehe ich in die Auseinandersetzung, auch in die Konfrontation, aber nicht bei den tagespolitischen Themen.

Dennoch scheint die AfD in der Flüchtlingsfrage oft die Deutungshoheit zu haben. Wie wollen Sie reagieren?
Ich glaube, das geht wirklich nur mit Ehrlichkeit. Als im Herbst 2015 der große Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien begann, war mir nicht wohl, wie sie empfangen wurden: mit einer unglaublichen Euphorie. Ich habe mich natürlich für die Menschen gefreut, dass sie mit offenen Armen aufgenommen werden. Aber es war doch eigentlich damals schon klar, dass das auch Probleme mit sich bringt. Diese ehrliche Diskussion hat dann auch begonnen. Ich glaube aber zu spät.

Was sind die Folgen?
Die verspätete Diskussion hat der AfD vielleicht in ihrer Argumentation geholfen. Ich sage aber als regierender Bürgermeister von Berlin aus voller Überzeugung: Berlin hat über Jahrzehnte Solidarität empfangen, sonst wären wir gar nicht überlebensfähig gewesen. Jetzt ist es an uns, Solidarität zurückzugeben. Ich will und werde auch weiterhin helfen. Aber ich sage auch offen: Viele Probleme auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildungspolitik bis hin zu den Fragen, welchen Wohnraum wir den Flüchtlingen bieten können, können uns vor große Probleme und Anforderungen stellen.

Welche Perspektive haben Flüchtlinge in Deutschland?
Es ist ein jahrelanger Prozess, die Menschen auszubilden, sie die Sprache zu lehren und ihnen Wohnraum zu verschaffen. Man muss den Bürgern vermitteln, dass es all das nicht zum Nulltarif gibt. Dass es auch Geld und Kraft kosten wird. Ich hoffe, dass die ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema – gleichzeitig darf man nie infrage stellen, dass man weiterhelfen wird – vielleicht dabei helfen wird, die Offenheit für diesen Weg zu bekommen.

Gerade in Ostdeutschland gibt es aber wegen der Flüchtlingsfrage Verkrampfungen.
Es gibt unterschiedliche Lebenswege und Biografien in Ost- und West-Berlin. Wir merken, dass es 28 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch unterschiedliche Mentalitäten gibt. Das muss man ernst nehmen und auch daran arbeiten. Es ist uns viel im Zusammenwachsen der Stadt gelungen. Aber man muss auch immer noch auf die unterschiedlichen Biografien Rücksicht nehmen. Das spiegelt sich dann durchaus in Integrationsfragen wider. Wobei: Wir haben auch in Baden-Württemberg starke Ergebnisse für die AfD. Ein Ost-Bashing ist an der Stelle nicht sachgerecht.

Kann die AfD den etablierten Parteien langfristig schaden?
Ich glaube, dass die demokratischen Parteien und Institutionen in einer engen Kooperation durchaus erreichen können, dass die AfD eine vorübergehende Erscheinung sein wird. Ich rechne trotzdem nicht mit einem schnellen Verschwinden. Deswegen denke ich, dass es keine Zeit zu verlieren gibt für die politische Auseinandersetzung mit der AfD. Insbesondere bei den europäischen Themen. Diese sind mir sehr wichtig.

Martin Schulz hat die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. Das klingt leicht übermotiviert.
Man muss auch mal ambitionierte Ziele haben (lacht). Man kann nicht nur das tagespolitische Klein-Klein machen. Ich glaube, dass Martin Schulz jenseits der konkreten Umsetzung der Vereinigten Staaten von Europa dieses Sprachbild bewusst genutzt hat. Vereinigte Staaten heißt, man rückt näher zusammen.
Es geht in unserer Zeit darum, Dinge wie den Brexit, die Situation in Polen, in Ungarn, die Entwicklungen in Österreich, aber auch bei uns in Deutschland – ich will die 12 Prozent der AfD nicht kleinreden – nicht zuzulassen. Das alles muss einen ja mit Sorge erfüllen.

Das wird oft von Politikern gesagt, hilft aber wenig. Was tun Sie konkret?
Man kann nicht einfach Zuschauer sein. Man muss daran arbeiten, dass diese Länder nicht nur weiter so zueinander stehen wie bisher, sondern noch enger zusammenrücken, um die internationalen Probleme zu lösen. So habe ich Martin Schulz verstanden. Dann kann die Perspektive die gemeinsamen Staaten von Europa sein. Dieser Weg ist aber vielleicht bereits das Entscheidende.

Ist Martin Schulz der Mann für diese Vision?
Wir haben Martin Schulz gerade mit über 80 Prozent zum Parteivorsitzenden gewählt. Das ist ein großer Vertrauensbeweis. Wir haben alle gespürt, wie sehr er mit Haut und Haar für das Europa-Thema brennt und wie sehr er sich auch für diesen Bundestagswahlkampf engagiert und gekämpft hat.
Deswegen hat er immer noch das Vertrauen der Partei. Ich glaube, sehr, sehr viele Parteimitglieder wollen mit Martin Schulz weiter an der Parteispitze zusammenarbeiten.

Kennen Sie Schulz persönlich?
Wir kennen uns schon länger aus der Zeit, als ich noch Fraktionsvorsitzender und er im Europaparlament war. Wir haben uns auch immer mal wiedergesehen. Es ist ein sehr offenes Verhältnis und ein unbefangener Austausch.

Sie haben vorhin gesagt, Schulz und Sie seien anders als der Rest der Partei. Kann man so eine verkrustete Parteistruktur aufbrechen?
Ich weiß gar nicht, ob sie so verkrustet ist. Es gibt in allen großen Organisationen eingespielte Regularien und Verfahren. Da ist die SPD nicht schlechter und nicht besser als andere Akteure. Aber diese 20 Prozent sind ein Desaster und ein Weckruf.

Wurde er denn von der Parteispitze gehört?
Ich habe in den letzten Wochen in wirklich nächtelangen Sitzungen nicht einen einzigen erlebt, der nicht begriffen hat, dass man über den eigenen Tellerrand der Gruppierung, des Landesverbandes oder Regierung hinausschauen muss.
Das wurde auf dem Parteitag deutlich. Es war keine Anklage, kein Pöbeln, kein frustriertes In-der-Ecke-Stehen, sondern das gemeinsame Interesse in einer fünfstündigen Aussprache, die Frage zu klären, wie wir nach vorne kommen.


Zur Person

Michael Müller wurde am 9. Dezember 1964 in Berlin geboren. Er hat zwei Kinder und ist verheiratet. Müller hat sein Abitur nicht abgeschlossen, dafür aber eine kaufmännische Lehre absolviert. Er ist seit 1981 SPD-Mitglied und war von 1986 bis 2011 selbstständiger Drucker. Als er Senator wurde, konnte er nicht mehr im Familienunternehmen weiterarbeiten. Seine Eltern sind weiter als Drucker tätig. Müller wurde letzte Woche in den Parteivorstand der Bundes-SPD gewählt.