Gesundheit Der Ärztemangel in Luxemburg ist ein aufgeschobenes Problem 

Gesundheit  / Der Ärztemangel in Luxemburg ist ein aufgeschobenes Problem 
Der Ärztemangel kommt, wenn die Babyboomer-Generation von Medizinern in Rente geht Foto: Editpress/Alain Rischard

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Gibt es in absehbarer Zeit zu wenig Ärzte in Luxemburg? Gerade erst hat sich die Generalinspektion der Sozialen Sicherheit (IGSS) wieder mit dieser Frage beschäftigt. Gespräche mit zwei niedergelassenen Ärzten zeigen die Tragweite des Themas und wie komplex die Situation ist.

Für Claude Weber (60) kam vor 30 Jahren nichts anderes infrage, als sich als Arzt im ländlichen Raum niederzulassen. „Das war eine bewusste Entscheidung“, sagt er hinter seinem mit allerhand Papieren beladenen Schreibtisch in Hollenfels.

Seine Praxis liegt neben der zweitwichtigsten Instanz in kleinen Dörfern, dem Gasthaus, und verströmt die intime Nähe von Sich-aufgehoben-Fühlen. Vor allem, wenn es einem nicht gut geht. Diesem Arzt vertraut man sich gerne an und er weiß um die Wirkung.

„Willkommen in meiner Höhle“, so begrüßt er mich und verfolgt meinen Blick auf das Regal mit einem Sammelsurium von Modellen hinter ihm. „Das hier zeige ich den Omas“, sagt er und greift nach zwei weißen Kästen mit einer weißen, mehr oder weniger löchrigen Masse darin.

Das eine zeigt die Knochen von jungen Menschen, das andere die von älteren. Osteoporose betrifft mehrheitlich Frauen. Damit will er anschaulich sicherstellen, dass sie ihre Medikamente nehmen. „Die Menschen auf dem Land ticken anders als in der Stadt“, sagt er.

Als er vor 30 Jahren kurz vor Ende eines Entwicklungshilfe-Einsatzes in Afrika den damaligen Bürgermeister von Tüntingen anruft, ist die Überraschung groß. „Ich hätte nie gedacht, dass sich in unserer Gemeinde ein Arzt niederlassen will“, erhält er als Antwort und ein Zimmer im Rathaus zur Miete. Das Waschbecken teilt er sich mit dem Förster.

Viele Allgemeinmediziner sind älter als 55 Jahre 

Ein Jahr gibt er sich Zeit, um zu schauen, ob er davon leben kann. Tüntingen zählt damals 1.800 Einwohner. Es klappt bis heute. Obwohl die Gemeinde Helperknapp nach der Fusion 2018 knapp 4.400 Einwohner zählt, hat er 11.000 Namen in seiner Patientendatei.

Altersmäßig liegt der Allgemeinmediziner genau in der Kategorie, die zu den Sorgen vor einem Ärztemangel beiträgt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es aktuell 2.481 praktizierende Ärzte in Luxemburg. Damit sind Zahnärzte, Allgemeinmediziner und Fachärzte mit eigener Praxis gemeint. Die Zahl stammt aus dem Jahr 2019.

Im selben Jahr sind von den 555 Allgemeinmedizinern nach Ministeriumsangaben rund 43 Prozent mindestens 55 Jahre alt. „Sie werden vielleicht noch zehn oder, wenn sie bei guter Gesundheit sind, maximal 15 Jahre lang praktizieren“, sagt Chris Speicher (25) von der „Association luxembourgeoise des étudiants en médecine“ (ALEM). Der Luxemburger studiert in Würzburg (D) Medizin und ist bei der Studentenvereinigung mit rund 340 Mitgliedern zuständig für die Kommunikation.

Dass er ein Auslaufmodell ist, hat Landarzt Weber schon mehrfach zu hören bekommen. Beeindrucken tut ihn das nicht. Er ist „maître de stage“ und bildet angehende Allgemeinmediziner aus. „Drei der Studenten hat es so gut gefallen, dass sie sich gerne mit mir in einer Gemeinschaftspraxis zusammengeschlossen hätten“, sagt er.

Bessere Work-Life-Balance in Gemeinschaftspraxen

Er ist nach eigenen Angaben der einzige niedergelassene Arzt in der Gemeinde Helperknapp und kennt zwischen Mersch, Bissen, Kehlen und Redingen Kollegen, zu denen seine Patienten ausweichen können. Sollte er mal nicht mehr praktizieren wollen oder können. Außerdem gibt es das „Centre médicale“ in Ettelbrück. Es hat vieles einfacher gemacht in seinem Berufsleben.

Früher hat er, wenn es nötig war, zehn Hausbesuche gemacht plus Praxis. Das macht er immer noch, aber heute sind es an manchen Tagen nur zwei. Also ist der Ärztemangel herbeigeredet? „Nein“, sagt Weber. „Gehen Sie mal in die Notaufnahme im Krankenhaus“. Die Krankheitsbilder dort bewegen sich zwischen Gehirnschlag über Herzinfarkt oder akuten Verletzungen zwischen allem Möglichen.

„Da sind Beschwerden dabei, die behandelt normalerweise der Hausarzt“, sagt Weber. Seine Work-Life-Balance war lange Zeit sehr unausgewogen. „Ich kann meine jungen Kollegen gut verstehen“, sagt er. „So wie ich früher gearbeitet habe, das wollen viele nicht mehr.“ 24 Stunden an sieben Tagen die Woche, das war lange sein Alltag.

Nach Angaben der ALEM wird eine gute Vereinbarkeit zwischen Berufs- und Privatleben aber immer wichtiger für junge Ärzte und führt vermehrt zur Gründung von Gemeinschaftspraxen. Jorge Batista (31) arbeitet seit März 2019 als Allgemeinmediziner in Junglinster im „Centre médical JongMëtt“ mit zwei Kolleginnen zusammen.

Um einen regelmäßigen Dienst geht es ihm dabei weniger, sondern eher um den fachlichen Austausch, wenn Beschwerden Fragen der Diagnostik eröffnen. Außerdem weiß er aus Erfahrung: „Das müssen mindestens fünf bis sechs Ärzte sein, dann ergibt es bezüglich der Dienste Sinn.“

Allgemeinmedizin auf dem Land ist keine „Bobologie“

Wie für Weber gab und gibt es für ihn keine Alternative zur Allgemeinmedizin. „Ich wollte mich nicht spezialisieren, sondern den Menschen als Ganzes sehen und auch sein Umfeld“, sagt er. „Es gibt keine Spezialisierung, in der das so umfangreich möglich ist wie in der Allgemeinmedizin.“

In seinem Untersuchungszimmer mit dem Paravent, der an die Ornamente und Farben seiner portugiesischen Wurzeln erinnert, ist er das lebende Beispiel für Nachwuchs in einem ländlich geprägten Einzugsgebiet. „Ich wollte in den Osten und die ländliche Bevölkerung ist anders als in der Stadt“, sagt er. „Hier kommen sie erst, wenn es gar nicht mehr geht.“

„Bobologie“ war sowieso nie sein Ding. Dennoch haben diese Krankheitsbilder eine Konsequenz. Batista nimmt sich statt der abrechenbaren 10 bis 15 Minuten immer 20 Minuten Zeit pro Patient. „Wenn der Arzt mehr Zeit hat, zuzuhören oder zu erklären, kommen die Leute vielleicht nicht mehr zurück“, sagt er. „Das ist vielleicht nicht gut für mein Portemonnaie, aber besser für die Allgemeinheit.“ Sätze wie diese würde Landarzt Weber ohne Bedenken genau so sagen.

Trotzdem sind Beispiele wie er nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bevölkerung in Luxemburg nimmt ständig zu und viele Grenzgänger gehen hierzulande zum Arzt. Damit hält die Zahl der Medizinstudenten nicht Schritt. Wie die Zahlen zeigen, bleibt sie konstant. 1.004 Studenten lassen sich aktuell zum Mediziner im In- und Ausland ausbilden. Die Angabe stammt vom „Centre de documentation et d’information sur l’enseignement supérieur“ (Cedies).

Das klingt erst einmal nicht schlecht, bedeutet aber praktisch Stagnation. Das ergibt eine Betrachtung der Entwicklung über die letzten 20 Jahre. Nach Angaben der Vereinigung der Medizinstudenten kam 1998 auf 1.000 Einwohner ein Medizinstudent. 2010 waren es rein rechnerisch 1,5. Zehn Jahre später ist das immer noch so.

Bevölkerung wächst, Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich

Das liegt daran, dass der Zugang zu diesem Studiengang nach wie vor schwer ist. Um dem Numerus clausus in Deutschland gerecht zu werden, müssen luxemburgische Bewerber für das Fach Medizin durch das andere Schulsystem extrem gute Noten vorlegen. Beschränkungen in Form von zahlenmäßig begrenzten Kontingenten für Ausländer und Auswahlverfahren zu Beginn des Studiums sind die nächste Hürde. „Es gibt viel mehr Bewerber als Plätze“, sagt ALEM-Sprecher Speicher.

Zwar werden an der Uni.lu die ersten Mediziner bis zum Bachelor ausgebildet, noch aber studieren die meisten im Ausland. In Deutschland, das nach ALEM-Angaben als Studienort immer beliebter wird, dauert die Ausbildung vom ersten Studientag an bis zum Abschluss der Facharztausbildung zwischen zehn und zwölf Jahren. „Nach solch einer langen Zeit wollen viele nicht mehr zurück“, sagt Speicher.

„Auf Probleme wie diese und auf den Ärztemangel, der auf uns zu kommt, haben wir schon 2011 aufmerksam gemacht“, sagt Berufseinsteiger Batista. Er war in seiner Studienzeit in Straßburg (F) Mitglied der ALEM und zeitweise in deren Vorstand engagiert. „Das ist politisch gewollt“, sagt er.

Es ist eine Kostenfrage. Mediziner im Ausland ausbilden zu lassen, ist wesentlich günstiger als im Inland. Diesen Punkt hebt auch ALEM-Sprecher Speicher hervor. „In Deutschland kostet ein Medizinstudent den deutschen Staat über die Laufzeit von sechs Jahren zwischen 200.000 und 250.000 Euro“, sagt er. Da ist die anschließende Facharztausbildung noch nicht mitgerechnet.

Ärztemangel wird in zehn bis 15 Jahren akut

Batistas Antwort auf die Frage nach dem Ärztemangel lautet: „Im Moment haben wir keinen.“ Gleichzeitig schränkt er ein: „Wenn die Babyboomer-Generation in Rente geht, wird er aber kommen.“ Das ist in den nächsten zehn bis 15 Jahren. Vor dem Hintergrund, dass die Ausbildung so lange dauert, wie sie dauert, stellt er fest: „Jetzt zu reagieren, ist dem Problem hinterhergelaufen.“

Für ihn heißt das: „Luxemburg ist auf ausländische Ärzte angewiesen.“ Das ist es jetzt schon. Zwar stammen derzeit von den 555 Allgemeinmedizinern mit 351 Ärzten noch 63 Prozent aus Luxemburg. Der Rest aber kommt aus dem Ausland. Mit 95 Ärzten bzw. 17 Prozent kommt die größte Gruppe aus Frankreich.

Der junge Arzt sieht aber noch ganz andere Fehlentwicklungen. „Luxemburg hat eine enorme Dichte von Spezialisten und gleichzeitig extrem lange Wartezeiten“, sagt er. „Da muss man sich Fragen stellen“. Die Zahlen belegen das. Den im Jahr 2019 beim Gesundheitsministerium verzeichneten 555 Allgemeinmedizinern stehen 1.307 Spezialisten im Land gegenüber. Anästhesisten, Gynäkologen und Kinderärzte stellen die größten Gruppen dar. Brisanz erhalten Batistas Beobachtungen durch die andauernde Pandemie. Gerade Corona hat gezeigt, wie wichtig eine angemessene Zahl gut ausgebildeter und motivierter Ärzte und deren Dienst am Patienten sind. 

Die ALEM

Die „Association luxembourgeoise des étudiants en médecine“ (ALEM) macht schon lange darauf aufmerksam, dass es zu einem Ärztemangel kommt. Bezüglich der Ausbildung fordert die ALEM eine Kooperation der Kliniken in Luxemburg, um sich im Sinne eines Universitätsklinikums der Lehre zu verpflichten. Sie setzt sich zudem für ein komplettes Medizinstudium in Luxemburg sowie eine Erweiterung der Ausbildung zum Facharzt in Luxemburg ein. Bislang gibt es das nur für Allgemeinmedizin und ab 2021 ebenfalls für Neurologie und Onkologie. Außerdem bemängelt die Studentenvertretung die unsystematische Datenerfassung hierzulande. Sie sei ungenau und ermögliche keinen Überblick über die genaue Anzahl an praktizierenden Ärzten und die zu erwartende Anzahl an Nachwuchs-Medizinern.

Der IGSS-Bericht

Der Bericht der „Inspection générale de la sécurité sociale“ (IGSS), der seit dem 11. September öffentlich zugänglich ist, ist der Versuch, Luxemburg im europäischen Vergleich zu positionieren. Konkret heißt das, wie steht Luxemburg im Vergleich zu Deutschland, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz da? Mit nur drei Ärzten pro 1.000 Einwohner hat Luxemburg eine relativ niedrige Ärztezahl gegenüber seinen Nachbarländern. Die Zahl stammt allerdings aus dem Jahr 2017. Im selben Jahr kamen in der Schweiz und Deutschland rein rechnerisch 4,3 Ärzte auf 1.000 Einwohner. Darüber hinaus ist die Alterung der Ärzte, die in allen Ländern Anlass zur Sorge gibt, in hierzulande ein deutlicher Trend.

Turmalin
30. September 2020 - 13.22

Neue Spitäler sollten keine selbständigen Ärzte zulassen, sondern bloß Angestellte. Dann könnten sie den Studenten im Voraus einen festen Job anbieten. Im Ausland geht das ja schließlich auch.