Der Abend scheint vornehm zu werden. Zwei Kellnerinnen und ein Kellner empfangen das Publikum im Zuschauerraum des Kasemattentheaters. Die Bühne ist schlicht im schwarz-weißen Schachbrettmuster gehalten. Ein mehrgängiges Menü ist angekündigt, „une experience culinaire extraordinaire“, dazu edlen Wein. Doch zuerst gibt es ein Quiz, was so gar nicht zum Ambiente passt. Dazu noch Fragen über das Durchschnittseinkommen und den Mindestlohn der luxemburgischen Einwohnerschaft. Darüber will diese nicht gerne reden. Über Geld spricht man nicht, sondern hat es. Und über Armut schon gar nicht, denn die sollte weit weg sein. Eine Zuschauerin antwortet trotzdem und liegt mit ihrer Schätzung gar nicht so falsch. Vielleicht ist sie vom Statec. Schließlich hat die aus Frankfurt am Main stammende und in Berlin lebende Regisseurin Leonie Rebentisch, in deren Wahlheimat es viel soziale Not gibt, für ihre Recherchen zum Stück jemanden von der Statistikbehörde hinzugezogen.
Gleich zu Beginn kommen einige nackte Zahlen auf den Tisch – und die drei Akteure Céline Camara, Clara Hertz und Raoul Schlechter schnell in Fahrt. Vorweggeschickt sei, dass sie mit ihren schauspielerischen Leistungen entscheidend dazu beitragen, ob als Kellner, Quizmaster oder gar Lexikon, dass aus dem Stück nach dem Fotoband von Raymond Reuter und dem großen Theatermacher Claude Frisoni über ein bitterernstes Thema ein abwechslungsreiches – auch sprachlich von Französisch über Deutsch bis Luxemburgisch – und sogar humorvolles Stück Theater wird, das keine Minute langweilt. Selbst die Fakten werden schwungvoll präsentiert. Die Inszenierung hat Tempo und musikalischen Schwung, sodass es den Zuschauern nicht zu sehr aufstößt, wenn sie erfahren, dass ihr Land an der Spitze der Länder bei den „working poor“ liegt und immer mehr Menschen dem Armutsrisiko ausgesetzt sind. Oder dass nur zwei Prozent des Wohnungsbestandes in Luxemburg aus Sozialwohnungen bestehen. Anstatt möglicher Delikatessen befinden sich schmerzhafte Wahrheiten unter den silbernen Servierglocken, allesamt mögliche Erklärungen dafür, „arm im reichsten Land Europas“ zu sein, wie eine Arte-Doku im vergangenen Jahr hieß.
Street Credibility und Unterhaltung
Besonders eindringlich sind die Szenen, in denen das Schauspieltrio jeweils einzeln eines von vier Schicksalen aus dem Buch vorträgt, etwa das von Madame Rosa, die entdeckte, dass ihr Ehemann zigtausend Euro Schulden bei Kreditwucherern aus Arlon angehäuft hatte. Die Frau arbeitet jetzt bei einer Reinigungsfirma und muss das Geld abstottern. Eine andere Geschichte ist die von Mike, der genug Geld hatte, aber alles verlor und sowohl dem Alkohol als auch den Drogen anheimfiel und obdachlos wurde. Hinzu kommen die Lebenswege des Paares Stefanie und Marcel oder der Familie MD. Allesamt sind sie erschütternd und zutiefst menschlich. Nicht zuletzt durch die Aussagekraft des Geschilderten wird einem bewusst, dass diese Geschichten jedem widerfahren können. Die nötige Street Credibility haben die Regisseurin und Dramaturg Antoine Pohu, die den Text in eine Bühnenfassung verwandelt haben, indem Leute vom Terrain wie etwa ein Streetworker sie berieten. Auch ein Besuch bei der „Stëmm vun der Strooss“ gehörte zur Vorbereitung. All das sieht man der Inszenierung an. Sie ist glaubwürdig und hält die nötige Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung. Die Inszenierung könnte nicht oft genug gezeigt werden und nicht zuletzt auch jenen, die an den politischen Stellschrauben sitzen. Dagegen sind diejenigen, die sich das Stück anschauen, meistens schon für die gesellschaftliche Problematik der Armut sensibilisiert.
Wer aber auch an dem Theaterabend fehlt, ist im Prolog zu „Les Exclus du festin“ zu lesen: „Die Protagonisten sind nicht da. Wo sind sie? Diejenigen, um die es geht, sind nicht da. Sie sind nicht da. Sie sind nicht anwesend. Sie sind unsichtbar.“ Und wenn nicht, dann werden sie übersehen oder übergangen – einfach ignoriert. Es sind die Ausgeschlossenen des Festmahls. Am Ende suchen die Schauspieler nach Lösungen und schreiben „Tax The Rich“ oder „Manif“. Eine schreit: „Il faut une révolution!“ Theater kann keine Revolution auslösen, aber es kann Menschen zumindest dazu bewegen, sich darüber Gedanken zu machen.
De Maart

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