Es hatte lange gedauert. Zu meiner ersten intensiven Begegnung mit dem portugiesischen Kino kam es 2012 durch den Film „Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld“ von Miguel Gomes. Bis dahin hatte ich zwar viele Bücher von José Saramago und António Lobo Antunes, zwei meiner Lieblingsschriftsteller, sowie das „Buch der Unruhe“ des dichterischen Übervaters Fernando Pessoa verschlungen – aber die Filmlandschaft Portugals war mir, bis auf ein paar Werke von Manoel de Oliveira, verschlossen geblieben.
Das änderte sich mit Miguel Gomes‘ Schwarz-Weiß-Streifen, der in mehrerlei Hinsicht außergewöhnlich ist: Er wurde im 1:1,37-Format gedreht und verzichtet im zweiten Teil auf Dialoge. Der Film lässt das Motiv des Abschieds auf verschiedene Weise anklingen – mit den Mitteln einer im Verschwinden begriffenen Ästhetik erzählt „Tabu“ von einer Gesellschaft, deren Glanz verblasst ist. In einem Prolog geht es um einen unglücklich verliebten Afrika-Forscher, der von einem Krokodil gefressen wird. Dieses fällt der Melancholie anheim.
Im ersten Teil des Films, „Verlorenes Paradies“, geht es um drei Frauen, die im Lissabon der Gegenwart in ein und demselben Haus wohnen. Pilar macht sich Sorgen um ihre greise Nachbarin Aurora, deren Geisteszustand sich immer weiter verschlechtert. Aurora wird von merkwürdigen Träumen heimgesucht und verspielt ihre Rente im Casino. Ihre kapverdische Haushälterin Santa kennt sich mit Voodoo aus. Vor ihrem Tod möchte Aurora noch mal einen gewissen Gian-Luca sehen. Pilar macht diesen in einem Altenheim ausfindig. Sein Off-Kommentar liegt über dem stummen zweiten Teil mit dem Titel „Paradies“, der 50 Jahre zuvor spielt, als Aurora eine Farm in Afrika besaß und eine Affäre mit Gian-Luca hatte.
Pionier und Altmeister
Lange Zeit war Manoel de Oliveira, Symbol und Vaterfigur für viele Filmemacher des Landes, einer der wenigen portugiesischen Regisseure, die auch im Ausland bekannt waren. Der 2015 im Alter von 106 Jahren verstorbene Regisseur aus Porto war bis zu seinem Tod der älteste noch aktive Filmemacher und war schon in der Stummfilmzeit aktiv. Sein Debüt „Douro, faina fluvial“ (1931) war ein experimenteller Dokumentarfilm, sein erster Spielfilm „Aniki Bóbó“ (1942) ein neorealistisches Werk, noch vor Viscontis „Ossessione“ (1943).

Danach legte Oliveira eine kreative Filmpause von anderthalb Jahrzehnten ein und begründete dies mit der Repression unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar, der von 1932 bis 1968 herrschte. Salazars Estado Novo beruhte auf mehreren Pfeilern – die katholische Kirche, das Militär, die Großgrundbesitzer und die Ausbeutung der Kolonien – und war bestimmt durch die Verfolgung der politischen Gegner. Als Salazar 1968 eine Hirnblutung erlitt, wurde Marcelo Caetano sein Nachfolger. Der alte Diktator starb 1970.
Portugal war damals sehr rückständig: Das Land hatte zum Ende der Diktatur das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen, die höchste Säuglingssterblichkeit und mit 40 Prozent die höchste Analphabetenrate in Westeuropa. Schwierige Voraussetzungen für das portugiesische Kino. Eine Filmindustrie gab es nicht. Die wenigen Filme waren auf den einheimischen Bedarf ausgerichtet. Während der 30er, 40er und 50er Jahre zeigten die Kinos hauptsächlich ausländische Filme, in Portugal selbst entstanden fast nur harmlose Komödien und historische Romanzen.
Novo Cinema
Nachdem der Filmpionier Oliveira sich wieder dem Filmemachen zugewandt hatte, drehte er „O Acto da Primavera“ (1963), auf den ersten Blick ein christliches Passionsspiel, das jedoch von Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung handelt. Oliveira wurde sogar vorübergehend von der Geheimpolizei PIDE verhaftet. Ein weiterer Film aus dieser Schaffensphase des Regisseurs ist „O Passado e o Presente“ (1971), in dem er mit bitterem Skeptizismus und scharfer Ironie den Lebensstil der portugiesischen Oberschicht kritisierte.
Obwohl die Möglichkeiten beschränkt blieben, kam in den 60er Jahren eine neue Generation von Filmemachern wie Antonio de Macedo und Fernando Lopes auf. Dieses Novo Cinema inspirierte sich an dem sozialkritischen brasilianischen Cinema Novo, aber auch an der Nouvelle Vague, allerdings unter den eigenen portugiesischen Vorzeichen der Diktatur und der sozialen Probleme des Landes. Bis 1970 wurden nur etwa vier Spielfilme pro Jahr gedreht, was vor allem der strengen Zensur zuzuschreiben war. Die Dokumentarfilme jener Zeit waren vorwiegend Propagandastreifen. Dagegen wurde der unabhängig produzierte „Nojo aos Cães“ (1970) über eine Studentendemonstration verboten.
Zur Erneuerung des portugiesischen Kinos trug nicht zuletzt António da Cunha Telles bei, der eine Filmausbildung in Paris absolviert und in Portugal eine Produktionsfirma gegründet hatte, die in den 60ern ambitionierte Filme wie „Os Verdes Anos“ (1963) und „Mudar de Vida“ (1966) von Paulo Rocha herausbrachte, sowie „Berlamino“ (1964), das neorealistische Porträt eines Fischerdorfes von Fernando Lopes, und „Domingo a tarde“ (1962), den ersten Film des früheren Filmkritikers António de Macedo.
Cunha Telles drehte 1969 selbst „O Cerco“, der am Beispiel einer jungen Frau, die sich von ihrem Mann getrennt hat, inmitten einer von Männern dominierten Gesellschaft den Bewusstseinszustand einer parasitären Gesellschaft schildert. Noch besser gelang ihm dies in „Meus Amigos“ (1974), einem der laut Kritikermeinung besten Werke des damaligen portugiesischen Kinos über eine Gruppe von Freunden, die einst politisch aktiv war.
Nelkenrevolution
Als die Zensur gelockert wurde, nahmen kritische Strömungen zu, sodass zwischen 1972 und 1974 eine Reihe von Filmen entstanden, die einen neuen künstlerischen Standard setzten. Einen grundlegenden Wandel zugunsten des unabhängigen portugiesischen Kinos gab es erst nach der Nelkenrevolution vom 25. April 1974, als der linke Movimento das Forças Armadas (MFA) dem autoritären Regime ein Ende setzte. Dies brachte radikale gesellschaftliche Veränderungen mit sich, was mit filmischen Mitteln mehrfach festgehalten wurde, etwa durch den Dokumentarfilm „As Armas e o Povo“ (1974) vom „Kollektiv der Arbeiter der kinematographischen Aktivität“. Die Zensur wurde abgeschafft, und mit der Gründung des Instituto Português de Actividades Cinematográficas setzte sich erstmals der Staat aktiv für das Filmwesen ein.
Die Zeit unmittelbar vor der Revolution schien nach Ansicht einiger Filmhistoriker die stärkste Phase des portugiesischen Films zu sein. Ein Beispiel ist „Brandos Costumes“ (1974) von Alberto Seixas Santos, der auf die Figur Salazars Bezug nimmt, indem er eine Parallele zwischen dem Diktator und einem autoritären Vater einer Familie der mittleren Bourgeoisie zieht. Die Familie bildet hier eine Allegorie des Landes.
Nach dem April 1974 entstanden etliche politische Dokumentarfilme. Allerdings brach unter den Filmemachern ein Richtungsstreit aus: Die einen traten für publikumsnähere Filme ein, die anderen für ein avantgardistisches Kino. Bereits kurz vor, aber erst recht nach der Nelkenrevolution untersuchte eine Reihe von Filmen mehr und mehr die portugiesische Gegenwart und Geschichte, so auch das Thema Kolonialismus.
Der Geist jener Zeit zog auch Regisseure aus dem Ausland an, so zum Beispiel den Brasilianer Glauber Rocha (1939-1981), den wohl bekanntesten Vertreter des Cinema Novo. Einer der bekanntesten Filme dieser Phase war der sozialkritische „Continuar a Viver ou Os Indios da Meia Praia“ von Cunha Telles, der 1977 in Cannes gezeigt wurde. Als eines der Meisterwerke des portugiesischen Kinos gilt „Trás-os-Montes“ (1976), das in der titelgebenden Provinz im Norden des Landes von dem Dichter, Maler und Bildhauer António Reis und seiner Frau, der Psychiaterin Margarida Cordeiro, gedreht wurde. Er wurde neben „Veredas“ (1977) von João César Monteiro zu einem der von der internationalen Kritik am meisten gelobten Filme.
Siegeszug der Telenovelas
Im selben Jahr erlebte die portugiesische Fernsehlandschaft eine wahre Revolution, als der Sender RTP erstmals eine brasilianische Telenovela zeigte. Daraus entwickelte sich in den 70er und 80er Jahren eine wahre Industrie. Die erste in Portugal ausgestrahlte Telenovela war „Gabriela“ nach einem Roman des brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado. Die Telenovelas übten einen großen Einfluss auf die portugiesische Kultur und Gesellschaft aus. Es wurde sogar berichtet, dass selbst Ministertreffen und parlamentarische Sitzungen deshalb unterbrochen wurden. Dabei stellt sich die Frage, welche Revolution Portugal mehr geprägt hat: die der Nelken oder die der Telenovelas?
Altmeister Manoel de Oliveira drehte 1976/77 „Amor de Perdição“. Die mittlerweile dritte Verfilmung des Klassikers von Camilo Castelo Branco wurde als Miniserie im Fernsehen ausgestrahlt. Dabei hatten die sechs Episoden nichts mit der Ästhetik und narrativen Struktur einer Telenovela zu tun. Oliveiras Version war von Anfang an nichts fürs Fernsehen konzipiert. Eine fast viereinhalbstündige Filmfassung hatte großen Erfolg unter Cineasten in Frankreich. Bis heute stehen die portugiesischen Filmemacher wie etwa Miguel Gomes mehr für ein anspruchsvolles Qualitätskino abseits des Massengeschmacks.
Das „Festival du cinéma portugais“ läuft noch bis zum 14. November in der Cinémathèque.
De Maart

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