PrognosenChinas Bevölkerung schrumpft – Indien ist auf der Überholspur

Prognosen / Chinas Bevölkerung schrumpft – Indien ist auf der Überholspur
Chinas Bevölkerung ist im vergangenen Jahr erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Experten sprechen von einem „Wendepunkt“ und warnen vor wirtschaftlichen Folgen. Foto: dpa/Mark Schiefelbein

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Chinas Bevölkerung ist erstmals seit der Großen Hungersnot vor 60 Jahren geschrumpft. Das Nationale Statistikbüro gab am Dienstag die Zahl der Bürger Ende 2022 mit 1,41 Milliarden an, etwa 850.000 weniger als im Jahr zuvor.

Das markiert auch eine Zeitenwende für die Wirtschaft: „Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“, bewertete der Demograf Yi Fuxian die neuen Daten. „China wird seine Sozial-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Außenpolitik anpassen müssen.“ Damit dürfte Indien noch in diesem Jahr das bevölkerungsreichste Land der Erde werden.

Die chinesische Bevölkerung war zuletzt 1961 geschrumpft, dem letzten Jahr der großen chinesischen Hungersnot. Zu der Entwicklung 2022 trug eine historisch niedrige Geburtenrate von knapp 6,8 je 1.000 Einwohner bei. Gleichzeitig stieg die Todesrate mit 7,4 je 1.000 Einwohner auf den höchsten Stand seit der Kulturrevolution 1974. Einen Hinweis auf die weitere Entwicklung gibt der Rückgang bei den Frauen im gebärfähigen Alter, das in China als von 25 bis 35 Jahre definiert ist: Die Zahl fiel um etwa vier Millionen. Die Vereinten Nationen gehen inzwischen von einem Schrumpfen der Bevölkerung um 109 Millionen bis 2050 aus. Das ist mehr als dreimal so viel wie noch 2019 vorhergesagt.

Der Leiter des Nationalen Statistikbüros, Kang Yi, sagte vor Journalisten, die Bevölkerung solle sich keine Sorgen machen. Insgesamt übersteige das Angebot an Arbeitskräften weiter die Nachfrage. Demograf Yi Fuxian erklärte seinerseits, die abnehmende Zahl von Erwerbsfähigen und der damit einhergehende Rückgang der Industrie-Kapazität würden in den USA und Europa die hohen Preise und die Inflation weiter verschärfen. Experten zufolge führt die Entwicklung zu einem langsameren Wirtschaftswachstum, während die Staatseinnahmen sinken und die Verschuldung wegen höherer Gesundheits- und Sozialkosten steigt.

Niedrige Geburtenrate, hohe Sterberate

Demografen warnen seit längerem, dass China schneller alt wird als reich. Als Grund für die Entwicklung gilt insbesondere die Ein-Kind-Politik von 1980 bis 2015. Zudem schrecken hohe Kosten für die Bildung viele Chinesen davon ab, mehr als ein Kind oder überhaupt Kinder zu haben. Die strenge Null-Covid-Politik der Regierung verschärfte die Lage weiter. Während des Lockdowns von April bis Mai 2022 machte der Hashtag „Wir sind die letzte Generation“ kurz auf sozialen Medien die Runde, bevor die Zensur einschritt.

Experten machen allerdings auch Probleme in der Gesellschaft als Grund aus. Im August verwies der Demograf Peter McDonald von der University of Melbourne insbesondere auf Defizite bei der Gleichstellung von Mann und Frau. Hier liegt China nach Angaben des World Economic Forum auf Platz 102 von 146 Ländern. „Der Hauptgrund, warum Frauen keine Kinder haben wollen, liegt nicht bei ihnen selbst“, hieß es in einer von vielen Reaktionen in den chinesischen sozialen Medien nach der Veröffentlichung der neuen Daten. „Sondern im Versagen der Gesellschaft und der Männer, die keine Verantwortung für die Kindererziehung übernehmen wollen.“

Die Behörden versuchen seit 2021 mit diversen Maßnahmen, den Bevölkerungsrückgang zu bekämpfen. Dazu gehören Steuererleichterungen, längerer Mutterschaftsurlaub und finanzielle Unterstützung für Wohnkosten. Seit 2016 dürfen Paare zwei Kinder und seit 2021 drei haben. Die Arbeitszeiten sollen flexibler gestaltet und Angestellte mit Kindern Anspruch auf Homeoffice erhalten. Präsident Xi Jinping kündigte im Oktober weitere Maßnahmen an. Bislang zeigen sie keine Wirkung. In anderen Staaten der Region ist die Entwicklung ähnlich: Japan, Südkorea und Taiwan sehen sich alle mit rückläufigen Bevölkerungen konfrontiert, weil sowohl die Geburtenraten als auch die Einwanderungszahlen niedrig sind.