GroßbritannienChaotische Zustände im britischen Gesundheitswesen

Großbritannien / Chaotische Zustände im britischen Gesundheitswesen
Vor dem „Royal London Hospital“ im Osten Londons stehen Krankenwagen: Die Erstversorgung eingelieferter Patienten erfolgt oft erst nach Stunden Foto: AFP/Daniel Leal

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Eigentlich wollte Rishi Sunak über die mangelnden Mathematik-Kenntnisse britischer Schulabgänger reden. Doch für den erst seit Ende Oktober amtierenden Premierminister geht es zu Jahresbeginn vor allem um die Autorität seiner konservativen Regierung: Die Streikserie im öffentlichen Dienst reißt nicht ab, die Zustände im Gesundheitswesen NHS haben Notstandscharakter.

Bei einem seiner raren öffentlichen Auftritte gab sich der Regierungschef am Mittwoch hart: Weil die Inflationsbekämpfung höchste Priorität genieße, werde es keine Zugeständnisse an die Streikenden geben. Der seit Monaten andauernde Ausstand bei der Eisenbahn hat zu Wochenbeginn die Rückkehr der Briten an ihre Arbeitsplätze nach den Feiertagen stark behindert. Am Dienstag verkehrten lediglich 20 Prozent der geplanten Züge. Die Vereinigung der privaten Eisenbahn-Betreiber hatte schon vorab die Briten dazu aufgefordert, eine Reise gar nicht erst zu versuchen. Der Schienenverkehr dürfte bis zum Wochenende praktisch brachliegen.

Die Gewerkschaften RMT für Schaffner und Putzpersonal sowie Aslef für die Zugführer fordern größere Jobsicherheit sowie zweistellige Lohnzuwächse, um die erhebliche Teuerung auszugleichen. Diese lag der Statistikbehörde ONS zufolge im November bei 10,7 Prozent; Lebensmittelpreise stiegen um 16,6 Prozent. Die Arbeitgeber bieten für die kommenden zwei Jahre je 4,5 Prozent, pochen aber auf flexiblere Arbeitszeiten.

RMT-Boss Mick Lynch fordert seit Monaten direkte Verhandlungen mit der Regierung, weil diese den Zugbetreibern sowie der halbstaatlichen Infrastrukturfirma Network Rail finanziell die Hände gebunden habe. Verkehrsminister Mark Harper bestätigt diese Aussage indirekt: „Das Geld der Steuerzahler ist nicht unbegrenzt.“ In der Covid-Pandemie musste der Staat den privatisierten Unternehmen Milliarden zuschießen, um das System am Laufen zu halten. Im Gegenzug soll nun gespart werden. Das Ergebnis des Disputs ist eine Massenabwanderung der Kundschaft: Gebrauchtwagenhändler melden massive Nachfrage, mehr als die Hälfte der Interessierten gebe den „zunehmend unzuverlässigen öffentlichen Personenverkehr“ als Motivation an.

Weitere Streiks in ersten Januartagen

Für mehr Geld streiken in den ersten Januartagen auch Führerschein-Prüfer und Briefträgerinnen, Uni-Dozentinnen und Grenzschutzbeamte. Besonderes Kopfzerbrechen aber bereitet Sunak der Ausstand von Pflegepersonal und Ambulanzfahrern im Gesundheitswesen NHS. Denn anders als die meisten der vorher Genannten genießen die NHS-Bediensteten, die erst zur Monatsmitte wieder in den Ausstand gehen wollen, mit großer Mehrheit die Unterstützung der Bevölkerung. Das Boulevardblatt Mirror zeigte am Mittwoch die fünf Tory-Premierminister seit 2010 mit der Überschrift: „Sie haben unseren NHS kaputtgemacht.“ Diese Interpretation hat sich bei den Britinnen festgesetzt.

Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie glauben, Sie müssten sterben

Warnung einer Leitstelle

Gesundheitsminister Steve Barclay macht unverdrossen die Covid-Pandemie dafür verantwortlich, dass es allerorten zu verheerend langen Wartezeiten auf Krankenwagen, aber auch auf Routine-Termine beim Hausarzt kommt. Praktiker weisen auf langfristige Probleme hin: zu wenig Vorsorge, nicht genug Krankenhausbetten, zu wenig Plätze in Alten- und Pflegeheime für eine stetig älter und kränker werdende Bevölkerung.

Ein Sprecher der Downing Street musste schon vor Sunaks Rede einräumen: Viele Briten haben in diesem Winter „große Schwierigkeiten“, behandelt zu werden. Hausarzttermine werden wie Goldstaub gehandelt. Wie schlimm es um die Erstversorgung bestellt ist, verdeutlichte vor Weihnachten am Tag des jüngsten Streiks die drastische Warnung einer Leitstelle: „Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie glauben, Sie müssten sterben.“

Lange Wartezeiten vor Erstversorgung

Auch an normalen Tagen muss sich im Landesdurchschnitt 60 Minuten lang gedulden, wer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hat; in ländlichen Regionen kann es anderthalb Stunden dauern, bis die Erstversorgung eintrifft. Im Spital angekommen warten Sanitäter immer häufiger stundenlang, bis sie ihre Patienten der Notaufnahme übergeben können.

Denn allerorten fehlen Betten: Außer Schweden hat das Königreich in Europa die niedrigste Anzahl von Krankenhausbetten, mit gut zwei pro 1.000 Bewohner. Zudem sind viele Plätze von älteren Patienten belegt, deren Entlassung am Mangel an Heimplätzen scheitert. Auf 10 bis 12 Prozent des gesamten Bestandes schätzt Adrian Boyle vom Berufsverband der Notfallmediziner diesen Anteil. Die Folge all dieser verheerenden Zustände in der Versorgung: Pro Jahr sterben nach Boyles Schätzung bis zu 25.000 Patienten, weil ihnen nicht rechtzeitig Hilfe zuteilwird.

Schnelle Besserung ist nicht in Sicht. Im Alten- und Pflegesektor fehlen 165.000 Arbeitsplätze, beim NHS liegt die Zahl bei rund 100.000. Weil der Brexit die Anwerbung europäischer Fachkräfte erschwert, laufen jetzt Werbekampagnen in Afrika und auf den Philippinen. Für Sunak dürften neue Arbeitskräfte zu spät kommen: Mit Dreiviertel-Mehrheit halten die Briten die Konservativen für ungeeignet, der Probleme beim NHS Herr zu werden. In den Umfragen liegt die Partei um 20 Prozent hinter der Labour-Opposition.

mbettendorff
5. Januar 2023 - 15.26

@JJ "Schickt die Tories in die Wüste und kommt zurück in die EU." Nein danke. Dekaden lang gelästert, Extrawürste gefordert und bekommen, uns lächerlich gemacht und Nazis geschimpft, wir können froh sein, dass wir die los sind. In 50 Jahren vielleicht, wenn die 51.8% Brexit-Wähler gestorben sind.

JJ
5. Januar 2023 - 10.11

Die Konservativen scheinen weltweit Probleme zu haben. Nach BoJo und der zwei Wochen Lachnummer Truss sieht man kein Land in Sicht. Schickt die Tories in die Wüste und kommt zurück in die EU. Den Schotten und den Iren tut ihr einen Gefallen .Wir schaffen das.

Grober J-P.
5. Januar 2023 - 10.01

"Chaotische Zustände im britischen Gesundheitswesen." Und wo noch? Bitte raten Sie mal. Selbst erlebt: Zeitweise und über Monate nur 2 Betreuer für 50 "Patienten" im Altenheim. Nächster Fall. Ältere Frau mit sehr erhöhtem Blutdruck in ein hauptstädtisches Krankenhaus eingeliefert, kurzer Check und mit den angeblich nötigen Instruktionen und "Material" wieder zurück ins Altenheim. Einen Tag später, Frau mit starken Kopfschmerzen wieder ins Krankenhaus, diesmal etwas nördlicher, Frau fällt ins Koma, Blutung im Kleinhirn ist nicht mehr zu stoppen, Frau tot. Fazit vom Doktor, hat nicht sehr gelitten. Schön.