EditorialBettels Killerinstinkt

Editorial / Bettels Killerinstinkt
Machtbewusst, hoffnungslos unterschätzt – und politische Kommunikation statt Information: Premier Bettel. Foto : Editpress/Julien Garroy

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Ist Luxemburg eine Corona-Technokratie? Zum kontrovers diskutierten Verhältnis zwischen der Regierung Bettel und der Wissenschaft.

Technokratie ist, wenn Probleme gelöst statt zerredet werden“ (Helmar Nahr, Ökonom) vs. „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan“ (Olof Palme, ehem. schwedischer Premier) – Beide Positionen reflektieren die aktuelle Stimmung bestens: Hier der zivilisierte Teil der Impfpflichtgegner, der die Regierung als zu Virologen-hörig empfindet, dort Luxemburgs Impfpflichtbefürworter, die der Antivax-Kuschelkurs nervt. Wie kommt es zu dieser Polarisierung?

Ausgangspunkt ist ein Experten-Gutachten. Eine fünfköpfige Ad-hoc-Gruppe wurde von der Regierung mit der wahrscheinlich längsten Aufgabenstellung der Welt beauftragt: „Le groupe ad hoc d’experts, composé des membres suivants (…) a été chargé par le Gouvernement d’élaborer un avis, d’un point de vue médical et scientifique, sur l’utilité de l’instauration d’une obligation de vaccination contre la COVID-19 dans le contexte actuel d’évolution de la situation pandémique sur arrière-fond de propagation du variant Omicron du virus et en tenant compte du manque de progression de la campagne vaccinale.“ So weit, so komplex.

Das Resultat ist bekannt: Die Experten sprachen sich für eine vielschichtige Impfpflicht ab 50 aus und berücksichtigten dabei zahlreiche Faktoren (Zielbevölkerung, sektorielle bzw. berufsgruppenspezifische Zwänge, grenzübergreifende Phänomene usw.). Liest man das gesamte Gutachten jedoch mit ein wenig Distanz und in Ruhe noch einmal ganz durch, so fällt auf: Keine einzige Zeile dieses Schlüssel-Avis spiegelt die von Premier Bettel als „alternativlos“ bezeichnete Position wider. In allen Kernpassagen wird nur von Empfehlungen („recommandations“) gesprochen. Wie kann aber ein Dokument mit rein empfehlendem Charakter von der Corona-kritischen Öffentlichkeit als Herrschaft der Technokraten gedeutet werden?

Die Antwort überrascht: Die Maßnahmen-Gegner treffen in diesem Fall tatsächlich einen wunden Punkt – es handelt sich nämlich um politische Feigheit der Regierung. Aber: Diese besteht eben nicht darin, die Bevölkerung schützen zu wollen, und alles daranzusetzen, dass unser Gesundheitssystem nicht kollabiert. Nein, im Gegenteil: Sie besteht darin, dass man die Experten schlicht und einfach in der Chamber vorgeführt und ihr Wording für absolut erklärt hat. Genau deswegen übte der sonst sehr sachlich und ruhig erklärende Infektiologe Gérard Schockmel zuletzt lautstark politische Kritik an der Regierung – obschon er Teil der besagten Expertengruppe war (!). Sinngemäß meinte er: Too little, too late, liebe Freund:innen. Doch seine Reaktion ging nach Bettels Master Class in Sachen politischer Kommunikation unter: Der Premier hatte das Gutachten wie einen Schutzschild vor sich gehalten, die Abgeordneten vorgeführt und die Wut der Impfgegner auf die Experten gelenkt. Nach dem Motto: „Wat geet déi un, Politik ze maachen?“

Der einzige Haken an dieser Kritik: Es ist ein grobschlächtiges Politikverständnis. Xavier Bettel für einen blauäugigen Bürgermeister auf Lebzeiten und Experten für allmächtige Götter zu halten, ist leicht gutmütig. Wer immer noch nicht sieht, dass der Premier wie kaum sonst jemand politischen Überlebens- und Killerinstinkt besitzt, wird auch bei den nächsten Wahlen sein blaues Wunder erleben. Luxemburg ist keine Technokratie – der Auftraggeber des unabhängigen Gutachtens vermittelt bloß diesen Eindruck. Denn am Ende des Tages kann die Wissenschaft der Regierung das Entscheidungsrisiko nicht abnehmen und schon gar keine Corona-Fertiggerichte liefern: Es allerdings so wirken zu lassen, ist eine kleine politische Kunst – wie übrigens auch Bettels Umgang mit der Plagiatsaffäre zeigt.

HTK
4. Februar 2022 - 9.50

@Flim, Impfpflicht gibt es schon sehr lange(Pocken,Polio etc.) und niemand hat sich je darüber beschwert.

lupus-canis
3. Februar 2022 - 18.05

et ass scho richteg wéi den Auteur desen Artikel schreiwt, an analyséert huet op elo, alles esou richteg ass, wéi et duergestalt get, dat steet op engem aanere Blaat

Flim
3. Februar 2022 - 17.02

@HTK Impfpflichtgegner sind nicht gleich Gegner der Wissenschaft.

Dorj
3. Februar 2022 - 17.00

Ech mengen dir verwiesselt do Impfpflichtgéijner mat Impfgéijner.

HTK
3. Februar 2022 - 10.03

"..Hier der zivilisierte Teil der Impfpflichtgegner, der die Regierung als zu Virologen-hörig empfindet, ." Da muss man doch gleich einhaken. Wie kann ein zivilisierter Teil der Bevölkerung sich von Experten lossagen und den aktuellen wissenschaftlichen Stand in den Wind schlagen? Wir haben mittlerweile eine Lebenserwartung von 85 und mehr.Wäre das ohne die Wissenschaft möglich? Wenn eine Regierung sich über komplexe Themen bei "Experten" Rat einholt zeugt das doch nur von guter Überlegung. Man stelle sich vor es wäre umgekehrt. Wenn Palme meinte solche Entscheidungen selbst in die Hand nehmen zu können dann wäre das nicht nur mutig gewesen. So hat Bettel z.B. mit Gramegna nicht irgendwen als Finanzminister berufen,sondern einen der das gelernt hat und er lässt sich von Virologen beraten im Falle einer Pandemie usw. Was kann daran falsch sein? Gesund und mit vollem Magen schreien wir Bürger dann sofort " Diktatur " und stellen uns auf die Straße um uns zu blamieren. Was ist daran zivilisiert?