Belgien: Auch 100 Tage nach der Wahl ist noch keine Regierung in Sicht

Belgien: Auch 100 Tage nach der Wahl ist noch keine Regierung in Sicht

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

100 Tage ist es her, dass Belgien ein neues Parlament gewählt hat. Gestärkt wurden vor allem extreme Parteien. Um eine Regierung zu finden, müssen nun gerade jene Parteien miteinander reden, die das eigentlich stets ausgeschlossen hatten.

Regierungsbildungen in Belgien sind eine Nervenprobe. 541 Tage dauerte es, bis nach der Parlamentswahl 2010 eine Koalition stand – Weltrekord. Das Wahlergebnis von Ende Mai 2019 machte es den Parteien in dem ohnehin zerklüfteten Land nicht viel einfacher. Extremisten wurden gestärkt. Die traditionellen Parteien fuhren Verluste ein, ebenso die flämischen Separatisten der N-VA. 100 Tage ist die Parlamentswahl am Dienstag her. Die Folgen dieses politischen Bebens in dem Elf-Millionen-Einwohner-Land wirken noch immer nach – und eine neue Regierung ist weiter nicht in Sicht.

Eine stabile Mehrheit ohne die Unterstützung der N-VA und der französischsprachigen Sozialisten PS sei unmöglich, analysiert die Konrad-Adenauer-Stiftung – „ausgerechnet der beiden Parteien, die ihren Wählern im Wahlkampf versprochen hatten, zusammen keine Regierung zu bilden“. Die N-VA kam auf 16 Prozent, die PS auf 9,5. Beide sind in ihren Landesteilen jeweils stärkste Kraft – und stehen unter Druck. Denn im Süden legten die Kommunisten deutlich zu, im Norden die Rechtsextremen. Eine komplizierte Ausgangslage.

Schwieriges Wahlergebnis

Dave Sinardet, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Brüssel, sieht darin jedoch kein belgisches Alleinstellungsmerkmal. „Ja, es ist ein schwieriges Wahlergebnis“, sagt er. Aber dieses spiegele die Entwicklung in ganz Europa wider. Radikale Kräfte gewönnen hinzu, das Parteiensystem fragmentiere sich. Dahinter dürften Politiker sich nicht verstecken. Das entgegengesetzte Wahlverhalten in der Wallonie und in Flandern sei ohnehin nicht neu.

Einem bleiben weitere mühsame Gespräche auf der Suche nach einer Regierung erspart: dem bisherigen Premierminister Charles Michel. Er ist derzeit zwar noch geschäftsführend im Amt, wechselt allerdings bald den Job. Etwa 15 Gehminuten sind es von seinem derzeitigen Amtssitz zu seinem neuen Büro im Brüsseler EU-Viertel. Am 1. Dezember wird der 43-Jährige Nachfolger von EU-Ratschef Donald Tusk. Dann wird er nicht mehr zwischen den belgischen Regionen, Sprachgemeinschaften und Parteien vermitteln. Vielmehr muss der Jurist bei kniffligen Themen wie Migration oder Finanzen die divergierenden Interessen der bald wohl nur noch 27 EU-Staaten moderieren. Und wer weiß, ob der Brexit Ende Oktober tatsächlich über die Bühne geht?

Ende 2018 war Michel seine Mitte-Rechts-Koalition um die Ohren geflogen, weil sich die N-VA gegen den UN-Migrationspakt gestellt hatte. Bis dahin hatte Michels liberale Reformbewegung Mouvement Réformateur (MR) aus der Wallonie zusammen mit den flämischen Liberalen Open VLD, Christdemokraten CD&V und der N-VA regiert. Michel profilierte sich als ausgleichender Moderator.

Keine neue Regierung 

Fünf Monate nach dem Koalitionsbruch folgte die reguläre Parlamentswahl. Eine neue Regierung hat sich seitdem aber nicht gefunden. Und nun? Stefaan Walgrave, Politikwissenschaftler an der Universität Antwerpen, hält die Wahrscheinlichkeit einer Koalition, an der N-VA und PS beteiligt sind, für groß. Es gebe zwar auch eine Mehrheit für Sozialisten, Grüne und Liberale aus beiden Landesteilen sowie die flämischen Christdemokraten. Dann wäre die N-VA als größte Partei allerdings nicht in der Regierung. Zudem führt die N-VA die flämische Regionalregierung. Eine Doppelrolle für die Partei – hier in der Regierung und dort in der Opposition – wollten vor allem die anderen flämischen Parteien verhindern, sagt er. „Ohne die Regionen kann man in Belgien nicht viel Politik machen.“

König Philippe setzte nach den Wahlen zwei erfahrende Politiker als Vermittler ein: den bisherigen Außenminister und Vize-Premier Didier Reynders vom MR sowie Johan Vande Lanotte von den flämischen Sozialisten. Viel passiert ist seitdem allerdings nicht. Reynders und Lanotte führen Gespräche, loten rote Linien und Prioritäten aus, erstatten Bericht. Ende Juli organisierten sie ein Treffen fast aller Parteien, an dem auch N-VA und PS teilnahmen. Am Mittwoch folgte eine ähnliche Zusammenkunft. Bilaterale Gespräche zwischen N-VA und PS gab es offiziell bislang allerdings nicht. Vor allem die Sozialisten bleiben bisher auf Distanz.

PS könnte Gesprächen zustimmen

Walgrave rechnet dennoch damit, dass die PS früher oder später Gesprächen zustimmen wird. Schon Ende des Jahres könne eine Regierung stehen, prognostiziert er. Ihn stimme ein wenig optimistisch, dass die N-VA das Thema des unabhängigeren Flanderns bislang höchstens vage angeschnitten habe. Zudem sei es langfristig nicht im Interesse der PS, Gespräche platzen zu lassen. Dies würde nur die Behauptung der N-VA stärken, wonach Belgien in seiner jetzigen Verfassung nicht regierbar sei. „Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass die beiden Todfeinde irgendwann das Bett teilen und eine Regierung bilden.“

Ähnlich sieht Sinardet es. Brexit, Haushaltplanung und schlechter werdende Wirtschaftsprognosen – „irgendwann entsteht eine gewisse Dringlichkeit“. Er rechnet frühestens Ende des Jahres mit einer neuen Regierung. Charles Michel hat sein neues Büro dann schon bezogen.

Jacques Zeyen
31. August 2019 - 22.27

Gespaltene Nation,aus Tradition. Namur=Namen Und das im 21.Jahrhundert Nur auf der Insel ist es noch schlimmer.

Jemp
30. August 2019 - 18.16

Es ist ja nicht das erste mal, dass Belgien uns vorlebt wie gut ein Land OHNE Regierung funktioniert. Ein Schelm, wer da Böses denkt.