„Meinen Hund nehme ich auch mit, er ist quasi mein Ehemann“, sagt eine Frau in rosafarbener Mütze und gelber Jacke. Die Rentnerin steht in Cherson am Neberezna-Boulevard in einer mehrere Hundert Meter langen Schlange und wartet auf das Schiff über den Dnipro. Dorthin sollen in den nächsten Tagen bis 60.000 Einwohner der russisch besetzten Stadt evakuiert werden. Die Stimmung an dem nebligen Mittwochmorgen ist gedrückt, wie ein Video der russischen Tageszeitung Izwestja zeigt, doch Panik herrscht keine. „Busse warten auf der andern Flussseite und bringen die Leute auf die Krim, nach Krasnodar oder eben weiter“, berichtet ein junger Mann in einem schwarzen Hoodie mit der Aufschrift „Volksfront“. Der pro-russische Volontär strömt Ruhe und Vertrauen aus.
Der vom Kreml nach der Einnahme der damaligen 300.000-Einwohnerstadt im März eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Saldo hatte die Evakuierung im russischen Staatsfernsehen „Rossija 24“ am Mittwochmorgen angekündigt: „Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer verlegt.“ Wohin alle die Beamten gehen sollen, ist unklar. Am linken Flussufer des Dnipro befinden sich nämlich nur Sümpfe und ein paar Streusiedlungen, jedoch keine Vorstadt von Cherson.
Die russische Armee werde in der Stadt gegen die vorrückenden ukrainischen Truppen kämpfen, „sie kämpfen bis zum Tod“, versprach Saldo. Laut Saldos Stellvertreter Kyrill Stremousow haben die Ukrainer bis zu 50.000 Soldaten rund um Cherson zusammengezogen. Auf den Lagekarten der aktuellen Frontlinie ist zu erkennen, dass die ukrainische Armee beim Flughafen auf bis zu 15 Kilometer an das wichtigste Verwaltungszentrum der russischen Besatzer außerhalb der nahen, bereits 2014 besetzten ukrainischen Halbinsel Krim herangerückt sein könnten. In anderen Richtungen sind sie eher 20 bis 30 Kilometer von Cherson entfernt.
Bis Ende Oktober?
Laut russischen Staatsmedien steht der ukrainische Sturm auf Cherson unmittelbar bevor. Die Lage bei Cherson sei „angespannt“, sagt selbst der neue Kommandeur der russischen Invasionstruppen, Sergej Surowikin. „Schwierige Entscheidungen können nicht ausgeschlossen werden“, warnte der General die russische Öffentlichkeit. Laut Kiewer Beamten handelt es sich vor allem bei den Evakuierungen um eine russische Propaganda-Show. „Die Russen versuchen, die Einwohner von Cherson mit Falschnachrichten über den Beschuss der Stadt durch unsere Armee einzuschüchtern“, schreibt Wolodymyr Selenskyjs Präsidialamtschef Andrij Jermak auf Telegram. Westliche Geheimdienste hielten bisher eine Rückeroberung Chersons durch die Ukrainer ab Ende Oktober für möglich.
Bisher war die mögliche Evakuierung der verbleibenden, teils pro-russisch eingestellten Zivilbevölkerung aus Cherson von den Russen mit erwarteten ukrainischen Anschlägen auf den Staudamm des Flusswasserkraftwerks von Nowa Kachowka, rund 50 Flusskilometer aufwärts, begründet worden. Mehrere Stadtteile könnten in der Folge überflutet werden, ließen die russischen Besatzer verlauten. In den letzten Tagen wurde der Süßwasser-Kanal zwischen Nowa Kachowka und der Halbinsel Krim maximal angefüllt, um den Pegel des Stausees zu senken. Der Nowa-Kachowka-Staudamm ist in dieser Gegend die letzte halbwegs intakte Brücke vom rechten zum linken Dnipro-Ufer für möglicherweise bald fliehende russische Truppen.
Am Mittwochnachmittag hat der russische Präsident Wladimir Putin die Massenevakuierung von Cherson legalisiert, indem er das Kriegsrecht über alle vier Ende September von Russland annektierten ukrainischen Gebiete verhängte. Das Kriegsrecht schafft Sonderrechte für Zivilverwaltung und öffentlichen Verkehr, noch mehr Repressionen und die Zwangsverschickung von Zivilisten nach Russland. „Die Wartenden haben sich selbst in die Listen eingetragen“, sagte am Mittwochmorgen der pro-russische Volontär in Cherson.
De Maart
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