Die Kamera gleitet durch die nächtlichen Straßen, vorbei an den von Neonröhren erleuchteten Straßenmärkten, sie folgt den Lichtern der niemals schlafenden, surrenden Metropole. Dann hört man Stimmen von Pendler:innen; es sind Arbeitsmigrant:innen, die über ihre Erfahrungen in Indiens größter Metropole sprechen: „Mumbai, hier gibt es Arbeit und Geld“. Müde Gesichter, die nach Hause fahren, und schließlich bleibt die Kamera auf dem Gesicht einer Frau hängen …
Der indische Arthouse-Film, bei dem Payal Kapadia in ihrem Regiedebüt das Drehbuch schrieb und Regie führte, erzählt die Geschichte zweier Frauen. Er zeigt Kani Kusruti und Divya Prabha als Krankenschwestern, die sich in Mumbai verdingen. Den Film als „feministisches Sozialdrama“ abzutun, ist verkürzt, aber es ist ein Film aus der Perspektive von Frauen, in dem Solidarität und Zusammenhalt siegen werden.
Es ist ein Film aus der Perspektive von Frauen, in dem Solidarität und Zusammenhalt siegen werden
Thomas Hakim und Julian Graff haben ihn über die in Frankreich ansässige „Petit Chaos“ in Koproduktion mit indischen sowie einer niederländischen Produktionsfirma und der luxemburgischen „Les Films Fauves“ realisiert. „Les Films Fauves“ hat bereits im letzten Jahr in Cannes (2023) mit Wang Bings Dokumentarfilm „Jeunesse“ bewiesen, dass sie ein Händchen dafür hat, den Zeitgeist zu treffen. „Jeunesse“, der 2023 in Cannes im Wettbewerb lief, fängt über drei Stunden minutiös (und quälend) die Arbeitsbedingungen von Arbeiter:innen in einer chinesischen Textilfabrik ein. Ihr argentinischer Roadmovie „Los Delincuentes“, der 2023 in Cannes in der Nebensektion „Un certain regard“ lief, feierte eindrucksvoll die Anarchie. „All We Imagine as Light“ gibt nun Arbeiterinnen in Indien eine Stimme. Männer spielen in dem Film nur Nebenrollen. Die luxemburgischen Produzenten, rund um Govinda van Maele und Gilles Chanial, hielten sich auch anlässlich der Preview im Ciné Utopia zurück und überließen sympathischerweise den Frauen das Wort.
Inspiriert von Agnès Varda
So erzählte die Regisseurin Payal Kapadia, dass sie sich an Agnès Vardas „Cléo“ inspiriert habe und die darstellenden Frauen im Zuge der Dreharbeiten an dem Filmskript mitgewirkt hätten. Das Resultat lässt sich vorweisen, es trägt die Handschrift der Macher:innen und ist getragen von Empathie.
Die Protagonistinnen könnten nicht unterschiedlicher sein: Prabha (Kani Kusruti) ist reflektiert und erledigt ihren Job als Krankenschwester gewissenhaft. Sie beaufsichtigt und schult die anderen Krankenschwestern auf der Geburtshilfestation und geht umsichtig mit den Patient:innen um. Als eine 24-jährige Mutter von drei Kindern möchte, dass sich ihr Mann einer Vasektomie unterzieht, gibt sie ihr Tipps.
Ihre jüngere Mitbewohnerin Anu (Divya Prabha) ist von einer verblüffenden Sorglosigkeit. Sie schmeißt sich ins Leben und ist in der Großstadt eigentlich nur auf der Suche nach einem Ort für Intimität mit ihrem muslimischen Freund Shiaz (Hridhu Haroon), denn ihre Eltern wollen Anu mit einem Hindu verheiraten. Der Tragik dieses Schicksals wird Komik verliehen. So werden in einer Szene potenzielle Heiratskandidaten für Anu hintereinander eingeblendet und karikiert. Die Sehnsucht nach einem Ort, an dem das Paar ungestört sein kann, geht so weit, dass Anu sich sogar einen Hijab kauft, um Shiaz heimlich zu Hause zu besuchen.
Ein unerwartetes Paket stellt Prabha, deren Ehemann nach Deutschland zum Arbeiten ausgewandert ist und sich seit über einem Jahr nicht mehr bei ihr gemeldet hat, vor ein Rätsel. Ist das überteuerte Haushaltsgerät, ein überdimensionaler Reiskocher mit der Aufschrift „Made in Germany“ als Aufmerksamkeit zu verstehen oder ist es ein endgültiges Abschiedsgeschenk? In einer nächtlichen Szene sieht man Prabha den Schnellkochtopf verzweifelt umarmen.
So hängen beide Frauen in der surrenden Metropole, in der es ständig zu regnen scheint (der Film wurde in der Monsun-Zeit gedreht), ihren Träumen nach, auf der Suche nach der richtigen Wahl und dem Glück. In langsamen, mitunter etwas langatmigen Einstellungen folgt die Kamera Prabha und Anu auf dem Weg zu ihrer Arbeit, zoomt auf ihre müden, nachdenklichen Gesichter und begleitet sie bis ins Nachtleben Mumbais: „Mumbai-evening is my favorite time!“
Prabha und Anu eint die Einsamkeit, aber auch die Herkunft und die Sprache. Beide stammen sie aus dem südindischen Kerala und sprechen Malayalam, während die Ärzte im Krankenhaus Hindi sprechen. Prabha spricht auch fließend Hindi (die dominante Sprache in Indien, vertraut aus den Bollywood-Filmen). Ein Arzt, der einen Blick auf Prabha geworfen hat, müht sich beflissen, die richtigen Ausdrücke zu finden und will so eine Verbindung zu ihr aufbauen, doch Prabha entgleitet ihm.
Die Verdrängung der Ärmeren
Die Metropole Mumbai wird durch die im Film gesprochenen Original-Sprachen in ihrer Vielfalt ebenso lebendig wie durch die Szene einer Gewerkschaftsveranstaltung, auf der ebenfalls die Frauen das Wort ergreifen. Teurer Wohnraum und die Verdrängung der Ärmeren aus den Städten ist auch in Indien ein großes Thema. So muss eine dritte Krankenschwester, Parvaty (Chhaya Kadam), schließlich zurück in ihr Dorf, weil sie sich die Mieten in Mumbai trotz ihres festen Jobs nicht mehr leisten kann. In einer Szene werfen die beiden Frauen trotzig einen Stein in das Werbeplakat eines Investors, der mit nagelneuen Luxus-Wohnungen wirbt. Wie sonst sich gegen die Mächtigen wehren?
So liegt über dem Film trotz der Zerrissenheit der Figuren und der prekären Verhältnisse, in denen sie leben und sich durchschlagen, eine beschwingende Leichtigkeit. Wenn etwa Anu ihre Katze ins Krankenhaus schleust, der Arzt das verstörte Tier dort schüchtern röntgt und sie ihm kokettierend entgegenhält: „Doktor, wer Angst vor Katzen hat, war im letzten Leben eine Maus.“
Den Raum, um zu sich selbst und ihren Träumen zu kommen, werden Prabha und Anu schließlich an einem Küstenort finden, wo sie ihre ältere Kollegin Pravaty hinbegleiten. Fernab der Metropole können sie aufatmen, trinken und einander vertrauen. Hier tanzen sie unbeschwert und finden ihren Weg, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
So stehen am Ende von „All We Imagine as Light“ harmonische Bilder. Das grelle Licht aus den Straßen Mumbais weicht dem Sonnenuntergang am Meer und ein paar Glühbirnen an einer Strandbar. Das ist freilich nicht ganz kitschfrei, doch besticht die Endsequenz vor allem durch die Akzeptanz untereinander. „Verständnis und Toleranz, das sind wir“, so die Filmemacherin Kapadia beim Film-Lab. Das ist natürlich nicht das Indien des Hindu-Nationalisten Narendra Modi, aber es ist eine schöne Utopie in einem Mikrokosmos unter Frauen im Licht.
Infos zum Film
„All We Imagine as Light“ mit: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon; Frankreich, Indien, Niederlande, Luxemburg, 2024, 115 Min.
Läuft im Ciné Utopia
De Maart
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