Schornsteine, Mauern, Häuser: nahezu alles, was über zwei Meter aus dem Boden ragt, wurde mit Ziegeln gebaut. Die Region Hauts-de-France liegt in Nordfrankreich, doch das gleiche Stadtbild könnte genauso gut in Belgien, den Niederlanden oder in Südengland stehen.
Die Region und das Nachbarland Belgien trennt eine jener Grenzen, die durch den Schengenraum ihre Relevanz verloren. Würden die Autokennzeichen nicht ihre Farbe wechseln, wären beide Seiten der etwa 300 Kilometer langen Grenze kaum voneinander unterscheidbar.
Dennoch sucht sich Marine Le Pen die europafreundliche Region aus, um das letzte Wahltreffen ihrer mühsamen Kampagne zu halten. Am Donnerstag pilgerte ihre Wählerschaft aus ganz Frankreich in die 40.000-Seelen-Kleinstadt Arras, um ihre Kandidatin ein letztes Mal vor der Stichwahl am Sonntag zu begaffen. Auf dem Treffen irren ein paar Skinheads mit Südstaaten-Flaggen auf der Jeansjacke rum, die große Mehrheit sind jedoch Alltagsmenschen: die Friseurin von nebenan, einige Bauern, erstaunlich viele Jugendliche.
Le Pens „Verlierer“
Es sind die „Verlierer der Globalisierung“, wie sie Marine Le Pen selbst liebevoll getauft hat. Zum zweiten Mal stehen sich die Rechtspopulistin und der Pro-Europäer Emmanuel Macron gegenüber. Ihr zufolge gibt es demnach in Frankreich zwei Parallel-Gesellschaften: die System-Profiteure (Eurokraten und Ausländer) und das „französische Volk“. In Wahrheit ähnelt ihre Wählerschaft einem heterogenen Sammelsurium aus Wutbürgern, die dem „System“ eins auswischen möchten.

Im Gegensatz zum Fernsehduell am Mittwoch muss die Rechtspopulistin vor ihrer Wählerschaft in Arras kein Blatt vor den Mund nehmen. „Peuple de France, erhebe dich“, schallt es über die Köpfe der rund 3.000 Zuschauer. Das Volk solle sich erheben, um der „Zerstörung unserer Traditionen“, der „Islamisierung unserer Dörfer“ und der „unkontrollierbaren Immigration“ ein Ende zu setzen. Der wahre „front républicain“ (das heterogene Sammelsurium aus Wutbürgern) müsse Emmanuel Macron den Weg in den Elysée-Palast versperren.
Marine Le Pens Anti-System-Diskurs findet in der Region Anklang, vor allem bei jungen Menschen – so zum Beispiel bei Victor Catteau. Das 26-jährige Parteimitglied wundert es kaum, dass seine Kandidatin in seiner Region über eine Million Stimmen sammeln konnte, knapp 300.000 mehr als Emmanuel Macron. Immerhin kommt Marine Le Pen dorthin, „wo die meisten Arbeitsviertel sind, wo die Minen sind, wo der Strukturwandel die Menschen am härtesten trifft“, meint er. „Selbstverständlich ist sie hier die größte Hoffnung.“
Victor Catteau ist in Roubaix geboren, genau wie sein Vater. Heute ist die ehemalige Industriestadt eine der ärmsten Städte Frankreichs. Ende Januar hat der Fernsehsender M6 eine Reportage über die vermeintliche Islamisierung der Stadt gedreht, welche vor den Präsidentschaftswahlen von den rechtsextremen Amtsanwärtern instrumentalisiert wurde. Marine Le Pen warnte im Radio Europe 1 davor, dass es „morgen 100 Roubaix“ geben wird, „dann 10.000 Roubaix“, wenn nichts gegen die Islamisierung unternommen werde.
Der Bäcker von nebenan
Die Fernsehreportage entspreche der Realität, findet Victor Catteau. „Mein Vater kannte die rue de Lannoy, wo noch der Bäcker von nebenan seinen Laden hatte – Francis hieß der, glaube ich – also bevor sich Halal-Metzgereien und Herren-Friseure niedergelassen haben“, erzählt der 26-Jährige.
Doch nicht nur die 30.000 Muslime in Roubaix sind ihm ein Dorn im Auge, sondern auch die offene Grenze zwischen seinem Land und Belgien. Obwohl sein Vater selbst in einem flämischen Stahlwerk arbeitet, fordert er schärfere Grenzkontrollen, um islamistischem Terrorismus besser vorbeugen zu können und damit Frankreich seine Souveränität zurückerlange.
Glaubt man dem 26-Jährigen, so habe Deutschland einen zu großen Einfluss auf die EU und Frankreich sollte wieder für seine eigenen Interessen einstehen. Sogar in Zeiten des Ukraine-Kriegs scheinen den französischen Rechtsextremisten Wladimir Putin und Viktor Orban die besseren Verbündeten zu sein als die deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission.

Die Inkohärenz des rechtsextremen Diskurses frappiert. Wieso wählen die Einwohner der Hauts-de-France eine euroskeptische Kandidatin, wo doch die Region seit dem 19. Jahrhundert durch die Kohle- und Stahlindustrie vom internationalen Handel profitiert und dadurch den Grundstein für die Gründung der Europäischen Union legte?
„Die Frage ist falsch gestellt“, erklärt Pierre Wadlow, Politikwissenschaftler an der Universität Lille. „Die interessantere Frage ist doch, was sie davon abhalten soll, Marine Le Pen zu wählen. Die Antwort darauf lautet: nicht viel“. Der Politologe forscht über den Rechtsruck der Arbeiterklasse in der Region Bassin minier – dort, wo früher die Kohle abgebaut wurde. Die Region wurde über Jahrzehnte fast ausschließlich von sozialistischen und kommunistischen Parteien regiert. „Sobald es der Industrie (Ende der Neunziger) schlecht ging, waren linke Parteien die Ersten, die an den Pranger gestellt wurden“, erklärt Pierre Wadlow.
Seitdem Marine Le Pen so erfolgreich ist, hat sich etwas in den Köpfen der Franzosen umgeschaltet
Wo die Region noch vor zehn Jahren den sozialistischen Kandidaten François Hollande wählte, so schaffte es dieses Jahr Anne Hidalgo in der ersten Wahlrunde gerade mal über einen Prozentpunkt. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Kommunisten und Sozialisten ihre rote Weste direkt gegen eine braune ausgetauscht hätten. Das „Rassemblement national“ scheitert seit Jahren daran, sich in den Hauts-de-France auf kommunaler Ebene zu verankern. Doch die Gemeinden bleiben mehrheitlich rotes Pflaster. Nur zwei Dörfer sind dem Rechtsextremismus verfallen.

Pierre Wadlows Untersuchungen zufolge ist die Wahl Marine Le Pens mehr als Protest zu verstehen denn als klares Bekenntnis zu ihren Werten. Viele junge Wähler haben die Zeiten, in denen linke Parteien die Fußballturniere und die Dorffeste organisiert haben, nicht miterlebt und assoziieren den Sozialismus mit dem Verfall der Industrie. Hinzu komme, dass viele den Gründer des „Front national“ Jean-Marie Le Pen mitsamt seinen Holocaust-Leugnungen nicht kennen. Seine Tochter Marine Le Pen hat sich hingegen erfolgreich als salonfähige Populistin inszeniert, als Frau des Volkes. Dass sie rechtsextrem ist, scheint vielen Wählern zweitrangig zu sein.
Gestiegene Aggression
Für Muslime ist Marine Le Pens Rechtsextremismus jedoch alles andere als zweitrangig. Inès Khobzaoui ist in Roubaix geboren und aufgewachsen, genauso wie ihre Eltern. Ihre Großeltern sind während des Algerienkriegs nach Frankreich geflohen und arbeiteten in der Textilindustrie, welche Roubaix im 20. Jahrhundert einen gewissen Wohlstand bescherte. Die 23-Jährige müsste sich in ihrem Heimatort genauso zu Hause fühlen wie zum Beispiel das RN-Parteimitglied Victor Catteau. Dennoch wird die Franko-Algerierin in den letzten Monaten häufig beleidigt. Sie erzählt: „Seitdem Marine Le Pen so erfolgreich ist, hat sich etwas in den Köpfen der Franzosen umgeschaltet. Menschen, die sich sonst aus Respekt zurückgehalten haben, pöbeln einen jetzt auf offener Straße an. Und das sind nicht ältere Herren, nein, das sind junge Menschen – Menschen, die in der Globalisierung aufgewachsen sind!“ Inès trägt kein Kopftuch, doch für ihre verschleierten Freundinnen soll der Wahlkampf unerträglich gewesen sein.

In der ersten Wahlrunde wählte die Management-Studentin den linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, so wie die restlichen 52,5 Prozent der Einwohner von Roubaix. Am Sonntag wird sie den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron wählen, ohne zu zögern. „Als Muslimin bleibt mir keine andere Wahl. Marine Le Pen wird Roubaix in die Scheiße reiten“, meint Inès.
Sie ist frustriert, dass so wenige junge Franzosen wählen gehen. In der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen beteiligte sich nur knapp mehr als die Hälfte an der ersten Wahlrunde. Dieser Wert explodiert regelrecht bei Geringverdienern.
Marine Le Pen inszeniert sich als Vertreterin des „französischen Volkes“, doch in Wahrheit gelingt keinem Kandidaten, diejenigen zu mobilisieren, die ganz unten stehen. Mit 59 Prozent Wahlbeteiligung erzielte Roubaix am 10. April das landesweite Rekordtief.
De Maart
Le Pen würde nicht nur Roubaix in die Scheiße reiten. Die blauäugigen Jugendlichen sind empfänglicher für die Parolenschleuder Le Pen. Muslime raus,Ausländer raus,Franzosen zuerst,doppelter Lohn,Windräder weg usw. Wie sie das alles bezahlen will weiß nur sie-Aber mit Finanzen kennt sie sich ja bestens aus. Ihre Brüder im Geiste sitzen in Russland,Polen und Ungarn. Wer diese Frau wählt muss noch einmal neu nachdenken. Grippe mit Pest zu bekämpfen ist nicht ratsam.