Der Tod kann plötzlich kommen und besitzt bisweilen eine besondere Tragik. Dabei gibt es eine Reihe von ungewöhnlichen Todesarten unter Schriftstellern: Der US-Amerikaner Sherwood Anderson starb an einer Bauchfellentzündung, nachdem er einen Zahnstocher verschluckt hatte, sein Landsmann Tennessee Williams erstickte an der Verschlussklappe seiner Augentropfen, dessen österreichisch-ungarischer Dramatiker-Kollege Ödön von Horváth wurde auf den Champs Élysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Weniger skurril, aber nicht minder tragisch war 1987 der Tod des deutschen Autors Jörg Fausers, der nach seiner eigenen Geburtstagsparty auf der Autobahn überfahren wurde. Bereits 1975 wurde Rolf Dieter Brinkmann, als er in London die Straße überqueren wollte, von einem Auto erfasst und war auf der Stelle tot – kurz nach seinem 35. Geburtstag und ausgerechnet am „Shakespeare-Tag“, dem 23. April, unweit des Shakespeare Pub. Er habe nicht auf den englischen Linksverkehr geachtet, berichtete später sein Begleiter Jürgen Theobaldy.

In der deutschen Literatur wird das „Brinkmann-Jahr“ begangen. Denn der deutsche Dichter und Schriftsteller wurde am 16. April vor 85 Jahren in Vechta geboren und starb am 23. April vor 50 Jahren bei dem besagten Autounfall. Zu dem doppelten Jubiläum ist nicht nur eine Biografie des Autors erschienen, sondern eine neue, erweiterte Ausgabe von dessen Opus Magnum, des legendären Gedichtbands „Westwärts 1 & 2“, sowie ein „Zettelkasten“ mit kritischen Essays, literarischen Skizzen und biografischen Annäherungen. Beim ersten Buch, das unter dem Titel „Ich gehe in ein anderes Blau“ erschienen ist, handelt es sich um die erste Brinkmann-Biografie. Bisher hatte sich keiner gewagt. Michael Töteberg und Alexandra Vasa, ist es nun eindrucksvoll gelungen, das Leben des Autors nicht nur nachzuzeichnen, sondern dessen hohen Stellenwert in der deutschen Literatur zu erklären.
Die Biografie verdeutlicht von Anfang an, wie sehr Brinkmanns Leben auf ein schriftstellerisches Schaffen hinauslief. Als 17-Jähriger schrieb er an den Verleger Peter Suhrkamp und nannte sich „Sprecher seiner Generation“. Er schickte seine Gedichte an Literaturzeitschriften und bekam sie wieder zurück. Zu jener Zeit hatte er in Vechta in einer Schülergruppe mitgewirkt, die Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ aufführte. Zu seiner Heimatstadt hatte er ein von Hassliebe geprägtes Verhältnis, ebenso zum kleinbürgerlichen Vater. Dieser hatte für seinen Sohn eine Lehrstelle in einer katholischen Buchhandlung in Essen gefunden. Auf Dauer war das nichts für Rolf Dieter Brinkmann, der ab 1962 in Köln lebte und zunächst Pädagogik studierte, bevor er sich für ein Leben als freier Schriftsteller entschied.
Bombe im Kopf

Während sich vor allem seine frühe Prosa am französischen Nouveau Roman orientierte, unterschieden sich seine Gedichte von der meisten Lyrik, die zu seiner Zeit gedruckt wurde. Er schlug einen anderen Ton an. Das zeigen bereits „Fall out“, „Vertanes Gedicht“ oder „Die Bombe in meinem Kopf“. Brinkmann las so viel amerikanische Underground-Lyrik, wie er zu jener Zeit sich beschaffen konnte. Avantgardisten wie Frank O’Hara oder William Carlos Williams, aber vor allem die Beat Generation beeinflussten ihn. Seine zusammen mit seinem Freund Ralf-Rainer Rygulla, der nach London gegangen war, der ihn damit versorgte, herausgegebene Anthologie „Acid. Neue amerikanische Szene“ machte diese in Deutschland vollends bekannt. Brinkmann bezog sich auf junge Gegenwartsautoren und wurde zu einem der ersten deutschen Popliteraten. Statt über das Besondere voller Pathos zu schreiben, stand bei ihm das Alltägliche im Vordergrund, das er in Momentaufnahmen festhielt. Nicht so sehr das Selbst interessierte ihn, sondern das Andere, Antipoetische – und der Verfall. Er befasst sich mit Tod und Verlust. Das Leben war ihm ein „Gemisch träger Geilheit und willigen Sterbens“, Erotik nichts anderes als eine Form von Eskapismus, und dieser wiederum eine „Vorstufe zum ewigen Verschwinden, zur Vergänglichkeit“.
In Köln bat Brinkmann einen jungen Buchhändler, seinen Gedichtband zu drucken. So erschien im Oktober 1962 „Ihr nennt es Sprache“ im Verlag Klaus Willbrand. Brinkmann war infiziert und fand seinen eigenen, dichterischen Ton, der radikal und unbändig war. In der Biografie kommt deutlich der Einfluss der 68er-Revolte auf den Dichter zum Vorschein, etwa die Aktionen der Kölner Künstlergruppe „Exit“ oder die gemeinsamen Projekte mit Peter Handke. Ansonsten hatte er eher ein gespanntes Verhältnis zu den 68ern. Berühmt sind Brinkmanns Worte in der Westberliner Akademie der Künste zu dem Kritiker Rudolf Hartung: „Sie wollen mich in dieser Situation zu einer Differenzierung nötigen. (…) Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.“
Sie wollen mich in dieser Situation zu einer Differenzierung nötigen. (…) Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.

Darin tritt Brinkmanns Radikalität zutage. Nicht genug kann dabei der Einfluss der amerikanischen Beat-Poeten hervorgehoben werden. Vor allem William S. Burroughs’ Cut-up-Verfahren inspirierte ihn. Von großer Bedeutung war auch seine Zeit als Stipendiat in der Villa Massimo 1972/73 in Rom. Zum einen stand Brinkmann in einer klassischen Literaturtradition mit Autoren von Georg Büchner bis Heinrich von Kleist, andererseits spielte Rockmusik eine bedeutende Rolle, etwa in „Westwärts 1&2“. Brinkmann thematisierte unter anderem den frühen Künstlertod: „Jimi Hendrix an der / eigenen Kotze in einem / Hotel in London // erstickt, Brian Jones / schwimmt im Planschbecken / seines Landsitzes kühl // und ohne Gefühl.“
„Westwärts 1&2“

Dass er kühl schrieb, konnte man von Brinkmann nicht behaupten. Was er zu tun anfing, geschah auf seine Weise exzessiv. Die erste Fassung von „Westwärts 1&2“ war erheblich reduziert. Besonders eindringliche Verse heißen zum Beispiel: „Wer hat gesagt, daß sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.“ In dem Buch ist auch zu erkennen, dass er sich von der Pose des Popliteraten allmählich lösen wollte. Der US-Underground war für ihn weniger inspirierend geworden. „Westwärts 1&2“ brachte Brinkmann posthum den Petrarca-Preis ein und gilt heute als einer der wichtigsten Gedichtbände des 20. Jahrhunderts. Und Verse wie „für einen Moment eine / Überraschung, für einen Moment / Aufatmen, für einen Moment / eine Pause in dieser Straße, / die niemand liebt und atemlos / macht, beim Hindurchgehen“ bleiben in schöner Erinnerung. Die Texte sind suggestiv und zugleich geheimnisvoll.
Als Brinkmann den Gedichtband zusammenstellte, war er völlig abgebrannt. Die Zahlungsaufforderungen hatten sich bei ihm gestapelt, der Gerichtsvollzieher stand vor der Tür und verlangte von ihm Geld für das Studentenwerk. Seine Frau Maleen war erwischt worden, wie sie ein paar Handschuhe geklaut hatte. Es kam zu einem Prozess. Als junge Witwe hütete sie später Brinkmanns Nachlass streng. So entging Brinkmann der literarischen Leichenfledderei.
Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Rowohlt Verlag. Hamburg 2025. 397 Seiten. 35 Euro; Rolf Dieter Brinkmann: Ein Zettelkasten von Frank Schäfer. Verlag Andreas Reiffer. Braunschweig 2025. 160 Seiten. 18 Euro; Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag. Hamburg 2025. 448 Seiten. 52 Euro.
De Maart

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