Lust zu lesenComédie humaine oder Conditio humana?

Lust zu lesen / Comédie humaine oder Conditio humana?
Arnon Grünberg Foto: Bettina Fürst-Fastré

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Es geht um viel im neuen Roman des niederländischen Autors. Nicht nur um den Konflikt im Westjordanland, sondern auch um Assimilierung, um Fundamentalismus, darum, wie Medien das Leben eines Menschen zerstören können, um #MeToo und nicht zuletzt um Identität. Arnon Grünberg erzählt davon mit einer Leichtigkeit, die Guy Helminger den Hut ziehen lässt.

Kadoke ist Psychiater und wendet alternative Methoden an, um seiner suizidgefährdeten Patientin Michette zu helfen. So lässt er sie bei sich einziehen und seinen alten Vater pflegen. Als Michette einem Schriftsteller davon erzählt, und dieser die Geschichte als Roman herausbringt, aufgepeppt mit einer Missbrauchsgeschichte, gibt es für den Psychiater keine Zukunft mehr in Amsterdam und er flieht mit seinem Vater zu Anat, einer entfernten jüdischen Cousine, die in einer orthodoxen Siedlung im Westjordanland lebt und in die er sich bei ihrem Kurzbesuch in den Niederlanden verliebt hat. Kadoke selbst glaubt nicht an den Ewigen und gerät von Anfang an in Konflikt mit der fundamentalistischen Anat, um die er wirbt. Auch deren Mutter lässt kein gutes Haar am Europäer. Aber einige in der Siedlung sehen im Psychiater das Wunder, um das sie für Anat gebetet haben. Denn Anat hat noch keine Kinder und ist schon 36.

Grünberg erzählt von diesen Konflikten mit einem Humor, der einen zuweilen laut auflachen lässt. Er überzeichnet die Figuren, schildert bei aller Groteske aber geradezu tragische Versuche seiner Protagonisten, das Leben zu meistern und sich dabei nicht zu verleugnen. Und genau das ist das Großartige an diesem Roman, dass er der Leserin, dem Leser nicht erlaubt, sich über die Probleme hinweg zu amüsieren, sondern sie zugleich dazu zwingt, sich Gedanken über grundlegende gesellschaftliche Fragen zu machen. Verbiegt man sich, wenn man sich anpasst? Wie weit reicht die Macht der Wörter? Was dürfen Medien? Welche Rolle spielen die Siedlungen im Palästinenser-Konflikt? Findet die jüdische Orthodoxie einzig in der Erinnerung an den Holocaust einen Ort, um überleben zu können? Ist die Alternative zum gewöhnlichen Ablauf noch erlaubt oder wird sie in unseren Gesellschaften sofort als Übergriff sanktioniert?

Nachdem Kadoke in einem ersten Teil regelrecht untergegangen ist, hat er im zweiten Teil wieder etwas Boden unter den Füßen. Zwar fühlt er sich als Deckhengst, aber er liebt Anat und ist bereit, seinen Atheismus leicht zu beschneiden, wenn es dem Überleben in der Siedlung hilft.

Und dann kommt der dritte Romanteil, der das säkulare Leidens-Triptychon vollendet und Kadokes Leben erneut zu einer Wendung zwingt, die seine Existenz abermals in ihren Grundfesten erschüttert.

„Besetzte Gebiete“ ist ein großartig erzählter Roman, in dem das Lachhafte und die Tragik des Lebens Hand in Hand gehen, ein Pageturner, der nachhaltiger nicht sein könnte. Absolute Lese-Empfehlung.

Arnon Grünberg

„Besetzte Gebiete“. Roman. Kiepenheuer&Witsch, 2021. 432 S., 24 €