#ReadMoreWomenFremde, eigene Biografien

#ReadMoreWomen / Fremde, eigene Biografien
Die Schriftstellerin Monika Helfer Foto: Salvatore Vinci salvatorevinci.com

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Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer hat im vergangenen Jahr mit einem vielbeachteten Roman über einen Teil ihrer Familiengeschichte eine breite Leserschaft begeistert. Helfer erzählt in „Die Bagage“ von ihren Großeltern und deren Kindern, die als krasse Außenseiter, verschrien eben als „Bagage“, in einem abgelegenen Haus oberhalb eines Bergdorfs aufwachsen.

Die Mutter der Autorin erfährt das harte Dasein dieser Familie mit einer besonderen Verschärfung: Ihr Vater – und mit ihm die ganze Dorfgemeinschaft – hält sie für ein uneheliches Kind. „Die Bagage“ ist ein Buch, das auf besondere, völlig unsentimentale, unegozentrische Weise das Thema der Zugehörigkeit verhandelt und der familiären Zusammenhänge, die einen zu der Person werden lassen, die man ist. Diese Zusammenhänge bleiben in „Vati“ präsent, auch wenn man den Vorgänger nicht gelesen haben muss, um den Schilderungen folgen zu können. Der „Bagage“ ist der neue Roman sogar gewidmet.

„Vati“ setzt das Projekt einer literarischen Aufarbeitung der Familiengeschichte fort, diesmal mit Blick auf den Vater und dessen Herkunft, sowie vor allem auf die eigene Kindheit der Autorin. Ähnlich wie Helfers Mutter wächst der Vater als Außenseiter auf: Josef ist der uneheliche Sohn des Bauern, für den die Mutter arbeitet, und ein Kind, das in der Schule durch seine ruhige Art und seine Intelligenz auffällt.

Die besondere Begabung des Jungen wird erkannt und gefördert, und auch, was sich als seine größte Schwäche erweisen wird: ein unersättliches Verlangen nach dem Besitz von Büchern, das vor Grenzüberschreitungen nicht zurückschreckt. Josef stiehlt, weil er sich anders nicht zu helfen weiß, die Hefte seiner Mitschüler, um in der Hausbibliothek eines reichen Dorfbewohners Bücher abzuschreiben.

Gleichzeitig ist in dieser Liebe zu Büchern unschwer eine Eigenschaft zu erkennen, die den Werdegang der Tochter wesentlich mitbestimmen wird. Doch Helfer belässt es hier bei Andeutungen. Obwohl sie in diesem Buch viel aus eigener Anschauung heraus schreibt, benutzt sie die Personen, um die es vornehmlich geht, nicht als Vorwand zur Selbstspiegelung. Sie betrachtet nüchtern, analysiert, konstruiert, wägt ab, stellt Vermutungen an. Die Sachlichkeit ihrer Darstellung, selbst wo sie traumatische Erlebnisse beschreibt, wirkt dabei ungemein berührend.

Auch in diesem Roman macht Helfer den Akt des erinnernden Erzählens zum heimlichen Fokus des Narrativs. „Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.“ – In diesen Anfangssätzen werden Nähe und Distanz abgesteckt; mit der herausgehobenen Funktion eines ganz auf den Schein ausgerichteten Benennens wird der Vater von einer Person zur Figur, die erzählt werden will.

Berührende Sachlichkeit

Helfer umkreist diese Figur mit Vorsicht und ohne Anspruch auf die Allgemeingültigkeit ihrer Erzählung. Zum einen verweist sie immer wieder auf ihren Standpunkt als Erinnernde, die ordnet, Annahmen aufstellt oder verwirft, Lücken deutlich macht. Zum anderen konfrontiert sie ihre Sichtweise mit den Sichtweisen ihrer Familienmitglieder.

Das kann zu Momenten von Einigkeit führen, etwa wenn sie sich mit der Schwester an einen Restaurantbesuch mit dem schon betagten Vater in Schöneberg erinnert, bei dem der Vater zur Überraschung seiner Töchter zum heiteren Mittelpunkt der gesamten Belegschaft avanciert. Genau so können aber konfligierende Erinnerungen zu Anspannungen führen. So verlangt die Stiefmutter, das Buch über den Vater möge erst nach ihrem Tod erscheinen, damit sie sich nicht darüber ärgern müsse.

Als Leserin kann man die Zurückhaltung dieser Frau nachvollziehen, wenn sich die Autorin auch davor hütet, eine Wertung des Erzählten mitzuliefern. Die Biografie, die Helfer ihrem Vater zuschreibt, ist voller Brüche und Bedenklichkeiten. Als er nach einer Beinamputation als verletzter Soldat der Mutter begegnet, die ihn als Krankenpflegerin im Lazarett versorgt, lügt er ihr vor, ein Städter zu sein – und aus bedeutend besseren Verhältnissen zu stammen als der Hütte mit dem Lehmboden, in der er seine Kindheit verbracht hat.

Als Verwalter eines Erholungsheims für Kriegsversehrte, wo er etliche Jahre selbst mit seiner Familie lebt, setzt er sich immer wieder über Regeln und Anordnungen hinweg, wenn er auch oft Gutes für andere damit bewirkt. Das idyllische Leben der Familie erhält schließlich vor allem durch seine Entscheidungen einen anderen Dreh, nicht zuletzt, als er sich nach dem frühen Tod seiner Frau von den Kindern absondert und sie bei ihren Tanten ihrem Schicksal überlässt.

Josef ist keine starke, autoritäre Vaterfigur. Er erscheint in den Erinnerungen seiner Tochter vielmehr als fragil und schutzbedürftig, und dennoch als nahezu unnahbar. Ihn so zu zeichnen, kostet Überwindung. Eine der bedrückendsten Erinnerungen, die Helfer mit ihren Leser*innen teilt, handelt vom Versuch Josefs, aus seiner Vaterrolle herauszutreten und sich seiner Tochter mitzuteilen. Ihr ist das unangenehm, dass ihr der Vater als Mensch begegnen will. „Das ist doch eine Zertrümmerung“, schreibt sie über diesen Moment. „Es ist doch so, wenn der Vater das kleine Wort ‚ich’ ausspricht und auch wirklich und wahrhaftig ‚ich’ meint mit dem ganzen Drum und Dran, dann beginnt das Kind zu zittern.“

Der Titel dieses Romans ist sprechend: Es geht in erster Linie um den Vater. Doch wo nicht von ihm allein die Rede ist, wo die Eltern als Paar ins Spiel kommen, tut sich eine eigentümliche Leerstelle auf. Die Mutter der Autorin entzieht sich auch nach diesem zweiten Roman, bleibt auf gewisse Weise rätselhaft und undurchsichtig. Sogar den Tieren aus dem Wald, die sich von ihr füttern lassen, scheint sie zuweilen näher zu sein als ihren Kindern, ihrem Mann ohnehin.

Umso gewichtiger wirkt der Einfluss ihrer Geschwister, der Onkel und Tanten ihrer Kinder. Einmal treten sie sogar als versammelte Mannschaft zur Rettung auf, als die Mutter vor Kummer das Bett nicht mehr verlässt und Josef im Krankenhaus liegt. Dass sich die „Bagage“ auch in widrigsten Situationen kümmert, bedeutet zwar nicht die unmittelbare Lösung aller Probleme. Die Bagage aber treibt die Geschehnisse immer wieder voran, wenn es nicht mehr weiterzugehen scheint. Diese Verlässlichkeit ist eine schöne Pointe des Buches, das wahrlich kein leichtes Leben beschreibt.

Über die Schriftstellerin

Monika Helfer wurde 1947 im Vorarlberg geboren, wo sie auch heute mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, lebt. Sie ist die Autorin zahlreicher Romane, Kinderbücher und Theaterstücke und wurde mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet. Ihr Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (Jung und Jung) war 2017 zum Deutschen Buchpreis nominiert. Im vergangenen Jahr wurde sie sowohl mit dem Solothurner Literaturpreis als auch mit dem Bodenseeer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Ihr Roman „Die Bagage“ (Hanser), in dem Helfer einen Teil ihrer Familiengeschichte erzählt, gehört laut Spiegel-Bestsellerliste zu den 20 meistverkauften Büchern des Jahres 2020.