LuxFilmFestDancing with Little Wolves

LuxFilmFest / Dancing with Little Wolves
„Los Lobos“ ist alles andere als ein Misery-Porn (C) Octavio Arauz

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Grenzgebiete sind immer Räume für Konflikte oder wenigstens angespannte Situationen. In wenigen Tagen jährt es sich sogar, dass das Konzept Schengen-Raum je nach Land infrage gestellt wird – von den Zuständen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze unter den drei letzten Präsidenten gar nicht mal zu sprechen. Das US-Kino begab sich oftmals dorthin, um dramatischen Filmstoff zu produzieren, wie bei „Sicario“ oder auch Soderberghs „Traffic“ zu sehen war.

„Los Lobos“ des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi tastet sich seiner porträtierten Filmlandschaft völlig gegensätzlich an das Thema heran. Fernab von immerwährend potenziellen Gewaltausbrüchen und grauer Tristesse, wohin das Auge reicht, wendet er sein Augenmerk eher der Charakterstudie von kleinen Kindern – in diesem Falle die Zwei- und Einkäsehochs Max und Leo, die mit ihrer Mutter Lucia über den legalen Weg auf amerikanischem Boden versuchen, neues Lebensglück zu finden.

Aber das ist natürlich alles leichter gesagt als getan. Denn die Wohnungsmieten im texanischen Albuquerque sind für die kleinen Familien nicht sonderlich erschwinglich. Für das kleinste verschimmelte Drecksloch muss ein hoher, dreistelliger Dollarbetrag auf die Hand vorabbezahlt werden. Die Mutter muss wohl oder übel entscheiden, mit ihren kleinen Jungen in ein absolut gar nicht möbliertes Zimmer einzuziehen.

Die junge Frau verlässt in der Früh ihre Kinder, um einen ihrer etlichen Jobs anzugehen – damit das Reservegeld in der Pringles-Chips-Büchse nicht völlig aufgebraucht wird – und kommt abends erst spät nach Hause. Währenddessen müssen sich die beiden irgendwie beschäftigen und sollen dafür in der Wohnung zurückbleiben.

Ohne Weiteres hätte Samuel Kishi aus seinem Spielfilm „Los Lobos“ einen „Misery-Porn“ abliefern können, wie er im Bilderbuch steht. Schon allein das Bild von zwei kleinen Kindern in einer vergammelten Bude reicht dafür allemal aus. Aber Kishi ist nun mal nicht sein Landsmann Iñárritu. Er und sein Kameramann Octavio Arauz lassen sich auf die Knie fallen, um auf Augenhöhe mit ihren Protagonisten zu sein. Wären sie das nämlich nicht, hätten sie die Strahlkraft der beiden tatsächlichen Brüder hinter den Figuren – Maximiliano und Leonardo Nájar Márquez – niemals greifbar machen können.

Es ist diese Augenhöhe, welche die Mischung aus tristem Naturalismus und der Fantasiewelt der beiden Jungs nicht nur rechtfertigt, sondern notwendig und richtig macht. Mit nur wenigen Requisiten wie einem Kassettenspieler mit Stimmfetzen von Zurückgebliebenen, einigen Bleistiften und dem Blick gen Disneyland werden den Kindern sowie den erwachsenen ZuschauerInnen Konzepte von gestern, heute und morgen erfahrbar, wie es ein wissenschaftlicher Text über die Weltansicht von Kindern nicht hätte veranschaulichen könnte.

Die Welt von „Los Lobos“ ist auch eine, die unabhängig von jeglichen prekären Lebensumständen entdeckt wird. Sind die Situationen noch so alltäglich, so werden sie durch die Augen der beiden wunderbaren Jungschauspielern zu übernatürlichen Erfahrungen, über die mensch nicht zynisch hinwegschaut, sondern mitfühlt.

Der Film verliert jedoch ironischerweise an Gewicht, sobald er sich von seinen jungen Protagonisten wendet und den alles andere als dankbaren Arbeitsalltag der Mutter in den Mittelpunkt rückt. Die Symboliken, die Kishi in seinen Bildern in dem Kontext nebenher einfängt, sind getrieben von einer Einseitigkeit, die den Film schwerfällig gestalten. Beispiel: die Mutter, die vor riesiger amerikanischer Flagge den Flur wischt.

Die kindliche Naivität legitimiert oft Vorgänge, die anderswo plump wirken. Los „Lobos“ steht Sean Bakers „The Florida Project“ insofern sehr nahe, als dass der Film die Erfahrung von und das Leben mit Armut greifbar macht. Beide Filme spielen sich in Quasi-„No Man’s Lands“ ab, in denen dennoch versucht wird, so etwas wie Leben stattfinden zu lassen. Disneyland ist in beiden Fällen das abstrakte verheißene Land und die Kinderdarsteller sind bei Bakei Baker wie auch jetzt bei Kishi ein absoluter Glückstreffer.

„Los Lobos“ von Samuel Kishi, im Wettbewerb

Bewertung: 3/5

Läuft: Sonntag um 19.00 und Samstag, 13.3, um 16.00 im Ciné Utopia, ab heute 10.00 Uhr während 72 Stunden online

Frei von menschlichen Interferenzen: „Gunda“

 (C) Sant & Usant, V. Kossakowski, Egil H. Larsen

Die HauptprotagonistInnen aus Wiktor Alexandrowitsch Kossakowskis dokumentarischer Arbeit „Gunda“ sind: eine Sau, ihre kleinen Ferkel und die am Hof benachbarten Hühner. „Gunda“ ist keine Tierdoku, die mensch so im deutschen öffentlich-rechtlichen Nachmittagsfernsehen vorfinden würde. Ohne menschliche Interferenzen in der Form von Off-Stimmen oder für das Tierfilm-Genre sonst fast natürliche Anthropomorphisierungsversuche – die in den ersten 20 Minuten des Films von der Sau eiskalt zertreten werden – lässt Regisseur Kossakowski Schweine ganz einfach Schweine sein.

Über mehrere Monate begleitete er mit Kamera im Observationsmodus und majestätischem Schwarz-Weiß die Tierherde. Zu behaupten, Gunda wäre ein langsamer Film, gleicht einem Understatement. Wer sich jedoch darauf einlassen kann, wird in einen animalischen Sog geraten, aus dem es schwerlich gelingen wird, wieder aufzutauchen. „Gunda“ ist nicht nur ein Film, während dem mensch in das Seelenleben von Tieren schaut, sondern auch in das ganz eigene Verhältnis von eben diesen Tieren, die mensch sonst eher vor sich auf dem Teller vorfindet. Und obschon Kossakowskis Film nicht eine einzige blutrünstige Szene aufzuweisen hat, so ist das Ende brutaler als jede Reportage aus Schlachthöfen. (td)

Bewertung: 4/5

Läuft: heute um 19.00 Uhr in neimënster

Trauern, Erinnern, Loslassen: „A Metamorphosis of Birds“

„A Metamorphosis of Birds“ ist die überaus persönliche und gleichzeitig künstlerische Familienabhandlung der portugiesischen Regisseurin Catarina Vasconcelos. Ihr Film handelt von Leben und Tod ihrer Großmutter und Mutter sowie von den Männern der Familie, die von diesen Frauen durchs Leben begleitet wurden. Trauern, Erinnerung, Loslassen und Identitätssuche im Portugal des 20. Jahrhunderts sind im Zentrum dieses Films, welcher zwar im Wettbewerb für Dokumentarfilme zu sehen ist, bei dem jedoch die Grenzen zwischen Imaginiertem und Realität gewollt so verwischt werden wie selten. Mit einer Bildsprache, die an frühe Renaissance-Maler erinnert, präsentiert Vasconcelos einen einzigartigen Entwurf des Dokumentarkinos, welcher unbedingt auf der großen Leinwand erfahren werden sollte. (td)

Bewertung: 3/5

Läuft: heute um 16.00 Uhr in der Cinémathèque, morgen um 17.00 Uhr im Utopia, Donnerstag, 11.3, um 16.30 Uhr im Ciné Utopia, ab morgen 10.00 Uhr während 72 Stunden online