ForumDie Wut von Pakistans Mittelschicht gegen die Militärherrschaft

Forum / Die Wut von Pakistans Mittelschicht gegen die Militärherrschaft
Mitglieder der Tehreek-e-Insaf (PTI) protestieren in Peschawar gegen die umstritteneren Wahlergebnisse. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten an. Foto: AFP/Abdul Majeed

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Pakistans von Behauptungen über weit verbreitete Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe getrübte Parlamentswahl vom 8. Februar führte zu einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse und zur Bildung einer aus den beiden großen dynastischen Parteien des Landes bestehenden Koalitionsregierung. Trotzdem stellt das Ergebnis eine spektakuläre Niederlage für das mächtige Militär des Landes dar, da von der Partei des inhaftierten ehemaligen Premierministers Imran Khan, Tehreek-e-Insaf (PTI), unterstützte Kandidaten mehr Parlamentssitze gewinnen konnten als jeder andere politische Block, und das trotz eines zweijährigen harten Vorgehens gegen ihre Wähler und Anhänger.

Riesige Ohrfeige für das Militär

Obwohl die PTI nicht genügend Sitze gewann, um allein eine Regierung zu bilden, unterstreicht ihr unerwartet starkes Abschneiden – der Partei war die Wahlteilnahme offiziell untersagt – Khans Beliebtheit in der Bevölkerung. Im Vorfeld der Wahl sahen sich die Mitglieder und Anhänger der PTI Verhaftungen, Schikanen und der Zerstörung ihrer Unternehmen ausgesetzt. Am Wahltag selbst wurden in einem letzten verzweifelten Versuch, die Bemühungen zur Wählermobilisierung zu stören, die Mobilfunkdienste deaktiviert. Doch trotz dieser Hindernisse versetzten die pakistanischen Wähler dem Militär, dessen Einmischung in die Politik während der letzten drei Jahrzehnte kaum auf Widerstand gestoßen war, eine Ohrfeige historischen Ausmaßes.

Die pakistanischen Wahlen waren mehr als ein Wettstreit zwischen politischen Parteien; sie stellten eine Konfrontation zwischen denjenigen dar, die die zunehmend unverhohlene Einmischung des Militärs in die Politik ablehnen, und denjenigen, die im Bemühen um persönliche und berufliche Vorteile mit ihm kooperieren. Doch wirft das Ergebnis eine wichtige Frage auf: Warum begegnet dem Regime gerade jetzt derart weit verbreiteter Widerstand und warum gerade in Regionen, die lange als Hochburgen des Militärs galten?

Das starke Abschneiden der PTI lässt sich mit Sicherheit teilweise auf Khans öffentliche Beliebtheit als Pakistans größter Cricketspieler aller Zeiten zurückführen, und auf seine Entscheidung, die Autorität des Militärs herauszufordern – eine Auflehnung, die zu seiner Verhaftung und anschließenden Verurteilung wegen Korruption führte, für die er derzeit eine zehnjährige Haftstrafe verbüßt. Doch sie spiegelt auch die weit verbreitete Wut der Mittelschicht des Landes wider, deren wirtschaftlicher und politischer Einfluss trotz ihres starken Anwachsens der letzten 20 Jahre stetig abgenommen hat.

Boom in der Hochschulbildung

Laut der Ökonomin Durr-e-Nayab lassen sich rund 40 Prozent der Bevölkerung Pakistans der Mittelschicht zuordnen – einer Bevölkerungsgruppe, auf die während der letzten Jahrzehnte der größte Teil des Einkommenswachstums entfiel. Diese hat sich von den städtischen Zentren auf die ländlichen Gegenden ausgeweitet, wo die Nachfrage nach Mittelschichtswaren wie Motorrädern und Fernsehgeräten steil gestiegen ist. Zugleich hat sich die Zahl der Privatschulen drastisch von 3.000 im Jahr 1982 auf 70.000 im Jahr 2015 erhöht. Mehr als 34 Prozent der pakistanischen Kinder im Schulalter besuchen derzeit derartige Schulen; darunter sind viele aus Haushalten mit niedrigem mittleren Einkommen.

Pakistan hat während der letzten beiden Jahrzehnte zudem einen Boom im Bereich der höheren Bildung erlebt. Unterstützt von der pakistanischen Kommission für die Hochschulbildung sind selbst in abgelegenen Teilen des Landes Universitäten aus dem Boden geschossen. Während die Qualität der von diesen Einrichtungen vermittelten Bildung fragwürdig ist, hat die steile Zunahme der Anmeldungen eine als „aufstrebend“ beschreibbare Mittelschicht hervorgebracht. Trotz ihres Mangels an stabilen Einkommen teilen diese Haushalte dieselben Träume und Ziele wie jene der etablierten Mittelschicht.

Bedauerlicherweise steht das Wachstumsmodell, das Pakistans Mittelschicht stützt, auf wackeligen Füßen. Die Wirtschaft des Landes fußt auf geborgten Ressourcen; sie stützt sich stark auf die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds sowie wichtiger ausländischer Verbündeter wie den ölreichen Golfstaaten und China.

Pessimismus auf Höchststand

Darüber hinaus profitieren von der pakistanischen Wirtschaft in erster Linie die Eliten des Landes, die durch Subventionen, Steuerbefreiungen und verschiedene andere politische Maßnahmen Ressourcen abschöpfen. Die Steuererhebung ist ineffizient und regressiv und belastet überproportional die ärmeren und produktiven Bevölkerungssegmente. Das Wachstum der Großindustrie stagniert derweil, und die Exporte sind von 15 Prozent vom BIP im Jahr 2003 auf 11 Prozent im Jahr 2022 zurückgegangen.

Khans Sturz mittels eines vom Militär inszenierten Misstrauensvotums im April 2022 verschärfte Pakistans ohnehin schon prekäre Wirtschaftslage und bereitete den Boden für eine lange Phase wirtschaftlicher und politischer Turbulenzen. Die Weltbank schätzt, dass das reale BIP 2023 um 0,6 Prozent geschrumpft ist, da die Wirtschaft mit galoppierender Inflation und den verheerenden Auswirkungen der Überflutungen des Vorjahres zu kämpfen hatte.

Der Pessimismus in der Bevölkerung ist angesichts einer stagnierenden Wirtschaft und einer bei rund 30 Prozent verharrenden Inflation laut einer jüngsten Gallup-Umfrage auf den höchsten Stand seit 18 Jahren gestiegen. Rund 70 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verschlechtert habe. Die damit einhergehende weit verbreitete wirtschaftliche Unzufriedenheit trug dazu bei, die Gegenreaktion gegenüber dem Militär bei den Wahlen zu befeuern.

Doch kämpft Pakistans Mittelschicht nicht nur mit sich verschlechternden wirtschaftlichen Aussichten, sondern auch mit politischer Unterdrückung. Die Pakistanis der Mittelschicht, früher als „Quasselschicht“ bezeichnet, die lieber zu Hause Seifenopern schaute als wählen zu gehen, engagieren sich heute stärker politisch und bilden inzwischen das Rückgrat der Stammwählerschaft der PTI. Als das Militär sein Vorgehen gegen Khans Unterstützer aus der Mittelschicht – vielfach Frauen – intensivierte, nahm die Entschlossenheit der Opposition zu, was weitgehend an der Begeisterung der technisch versierten Jugend des Landes lag.

Entwicklungen innerhalb der Wählerschaft

In vieler Hinsicht waren dies Pakistans erste digitale Wahlen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 30; laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen bilden sie die „größte Generation junger Leute“ in der Geschichte des Landes. Konfrontiert mit einer riesigen, ihm vorwiegend ablehnend gegenüberstehenden Kohorte neuer Wähler sowie 73 Millionen aktiven Social-Media-Nutzern tat sich das Regime zunehmend schwer, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen.

Da die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen die Kosten kollektiven Handelns in die Höhe getrieben haben, haben sich die sozialen Medien zu einem machtvollen Instrument zur Wählermobilisierung entwickelt. Nach einer kontroversen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die es Khans Partei verbot, ihr traditionelles Cricketschläger-Symbol zu verwenden, nutzten ihre Unterstützer in großer Zahl die sozialen Medien, um Informationen über die den von der PTI unterstützten Kandidaten zugewiesenen neuen Symbole zu verbreiten.

Aber nicht nur das. Die ländliche Politik war in Pakistan traditionell um Verwandtschaftsbeziehungen und Patronage-Systeme herum organisiert. Die sozialen Medien ermöglichten nun, dass nationale Themen Vorrang vor örtlich beschränkten Anliegen erhielten. Die langjährige Vorstellung, dass ländliche Stimmenvermittler einem die Unterstützung kompletter Klans sichern könnten, wird zunehmend obsolet. In ähnlicher Weise wird weniger nach Haushalt geeint abgestimmt; die Familienmitglieder wählen nun gemäß ihren jeweils eigenen politischen Präferenzen. Zusammen erschweren diese Veränderungen es dem Militär deutlich, die Politik mittels der Lokalprominenz zu steuern.

Doch während die Ergebnisse einen Hoffnungsschimmer bieten, ist Pakistans politische Landschaft nach der Wahl nun gekennzeichnet durch eine explosive Kombination aus abnehmenden Ressourcen, einer wachsenden Zahl von Interessengruppen und einer nicht zu Zugeständnissen bereiten autoritären Elite. Die Versuche der Regierung, den Status quo durch Unterdrückungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten, haben zu einem historischen Legitimitäts- und Vertrauensverlust der staatlichen Institutionen geführt. Das resultierende institutionelle Vakuum lässt die Beschwerden der Mittelschicht unbefriedigt, was eine große Gefahr für Pakistans Stabilität birgt. In Ermangelung institutioneller Kanäle zur Beilegung politischer Streitigkeiten dürften Konflikte zwangsläufig gewaltsam gelöst werden.

Pakistans ausländische Partner müssen ihren Einfluss nutzen, um weitere Instabilität zu verhindern. In zwei Monaten wird Pakistan erneut beim IWF und anderen externen Geldgebern vorstellig werden müssen. Diese sollten das Militär unter Druck setzen, den wirtschaftlichen und politischen Griff, in dem es das Land hält, zu lockern. Es ist Zeit, jenen mehr Macht zu geben, die für das Wachstum und die Stabilität sorgen können, die Pakistan so dringend braucht.


Von Jan Doolan aus dem Englischen übersetzt.

Adeel Malik ist Außerordentlicher Professor für Entwicklungsökonomie und Globe Fellow für die Volkswirtschaften muslimischer Gesellschaften an der Universität Oxford.

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