ForumDirekte Demokratie und Diktatur der Minderheit

Forum / Direkte Demokratie und Diktatur der Minderheit
 Foto: Editpress/Julien Garroy

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In Paris setzte sich die direkte Demokratie durch. Nicht die doofen Politiker, nein, die Basis der Bürgerinnen und Bürger, wie es gendergerecht heißt, entschied sich mit der satten Mehrheit von 54,5% für die Verdreifachung der Parkgebühren für Autos über 1,6 Tonnen. Damit sollen die SUV und andere schwere Geländewagen aus Paris geekelt werden. Die 45,5% Gegenstimmen kamen wohl von den letzten Autofanatikern der Millionen-Stadt. In der nur jeder dritte Haushalt ein Auto besitzt.

Einzig „kleiner“ Misston. Bloß 80.000 Bürger, nicht einmal 6% aller Wahlberechtigten, beteiligten sich an der historischen Abstimmung. Ganzen 94% aller Pariser war das demagogische Referendum offensichtlich völlig schnuppe!

Bürgermeisterin Anne Hidalgo und ihre rot-grüne Mehrheit boten nicht zum ersten Mal den Parisern die Gelegenheit, sich basisdemokratisch auszutoben. Im Rahmen der angeblichen „démocratie participative“ wurden vor kurzem die Bürger zum Entscheid aufgefordert, ob es weiterhin mietbare Tretroller in der französischen Metropole geben dürfte. Die imposante Mehrheit von 89,03% der Wähler sprach sich gegen die elektrischen Roller aus. Doch von den 1,3 Millionen Wahlberechtigten drückten bloß 100.000 oder 7,13% der Bürger ihre basisdemokratische Meinung aus.

Populismus pur

Sollte man solche Bürgerentscheide feiern? Oder sie eher als populistische Entartung verurteilen?

Es ist offensichtlich, dass die Hidalgo-Truppe nur bei vermeintlich „sexy“ Themen die Bürger in die kommunale Beschlussfassung einbindet. Die mietbaren Roller wurden vielen in Paris zum Ärgernis, weil ihre Nutzer rücksichtslos Fußgänger wie Autofahrer bedrängten und prinzipiell rote Ampeln oder Fußgänger-Streifen missachteten. Bei der Abstimmung über die „kapitalistischen“ SUV durften Hidalgo und Gefolgschaft überdies auf Neidreflexe zählen.

Erstaunlicherweise organisierte die Pariser Stadtverwaltung keine demokratische Konsultation ihrer Bürger, als die lokale Wohn-Steuer um 44% angehoben wurde. Das entschied allein der Stadtrat! Wozu er demokratisch legitimiert ist. Wie Stadtrat und Bürgermeisterin ihre Verantwortung bei der Organisation des Verkehrs in Paris übernehmen könnten. Ohne Pseudo-Referenden.

Petitionswut in Luxemburg

Es gibt auch hierzulande Verfechter der direkten Demokratie. Seit der im März 2014 in Kraft gesetzten Petitions-Gesetzgebung wurden viele Hundert Petitionen an die Chamber gerichtet, was das Bedürfnis mancher Bürger zur politischen Mitgestaltung dokumentiert. Doch nur um die 5% der Petitionen fanden den Zuspruch der erforderlichen 4.500 Mitbürger. Etwa als 14.500 Bürger „Lëtzebuergesch“ als Amtssprache einforderten. Viele Petitionäre lieben Verbote: gegen die Raucher, gegen die Jäger, selbst gegen die Tram. Oder treten für generöse Selbstbedienung ein: weniger Steuern. Mehr Sozialhilfen. Sechs Wochen Urlaub. Die 35-Stunden-Woche, selbstverständlich mit vollem Lohnausgleich.

7.400 Bürger verlangten ein Referendum zur Reform der Verfassung. Doch als die Regierung Bettel die Bürger verfassungskonform aufforderte, sich in ihren Gemeinden für das Abhalten eines Referendums einzutragen, taten dies nicht einmal die Hälfte der Petitionäre. „Demokratie“ per Mausklick ist einfacher.

Im Mutterland der „direkten Demokratie“, der Schweiz, werden regelmäßig „Votationen“ abgehalten. Selten beteiligen sich über ein Drittel der Schweizer. An einer Votation zur Einführung der Erbschaftssteuer in direkter Linie nahmen immerhin 43% der Schweizer teil. Das „Nein“ siegte mit 71%. Fast luxemburgische Verhältnisse. Wo vier Fünftel der Wähler per Referendum das Wahlrecht für Ausländer abschmetterten.

„Direkter“ geht Demokratie wohl kaum. Dennoch sind es gerade die Verfechter von nationalen „Bürgerräten“, welche dieser „Diskriminierung“ unserer ausländischen Mitbürger ein Ende setzen wollen. Dabei nutzt bloß eine Minderheit der ausländischen Mitbürger ihr Wahlrecht bei Kommunal- oder Europawahlen. Was Zweifel am „demokratischen Defizit“ unseres Wahlsystems erlaubt.

Europäische „Rumpf“-Demokratie

Die Direktwahlen für das Europäische Parlament begeisterten bislang die Völker Europas nur mäßig. Vor fünf Jahren gab es europaweit eine Wahlbeteiligung von um die 50%.

Auch Ausflüge der EU-Kommission in die direkte Demokratie kannten keine berauschenden Erfolge. So rief 2021 die Juncker-Kommission die Europäer dazu auf, sich für oder wider Winter- und Sommerzeiten auszusprechen. Von einer halben Milliarde Europäer beteiligten sich bloß 4,6 Millionen Bürger an dem elektronischen Referendum. 70% davon waren Deutsche, die anscheinend am stärksten unter der zweimal jährlich erfolgenden Umstellung der Uhren leiden. Auch andere Bürgerbefragungen der EU-Kommission wurden von gut organisierten Lobbyisten aus Industrie oder Umwelt-Organisationen übermäßig beeinflusst.

Als die Kommission eine Konsultation zur Reformierung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik ins Netz stellte, gab es 322.916 Antworten. Selbst 1.221 Stellungnahmen aus Luxemburg. Eine genaue Analyse ergab, dass sich aus ganz Europa bloß 21.386 Landwirte zu den Reformvorschlägen äußerten. Dazu 9.241 Unternehmen aus dem Agrarsektor. Rund 250.000 der 322.000 Stellungnahmen wurden durch Computer-Programme erstellt. Völlig deckungsgleich eingereicht auf Initiative von Umweltorganisationen, die auf eine „Heidi“-Landwirtschaft abzielten. Alles Bio, ohne Dünger, ohne Pestizide, allein dem „Tierwohl“ verpflichtet.

Die „Repräsentativität“ solcher Bürgerbeteiligungen ist mehr als zweifelhaft. Ob Agrar- oder andere Politiken, die Probleme sind meistens zu komplex, um mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet zu werden.

Manipulierte Demokratie

Die Gefahr ist groß, dass gut organisierte Minderheiten die angeblich direkte Demokratie in ihrem Sinne umbiegen. Wie die 3% der Pariser, welche nun „mehrheitlich“ die SUV aus ihrer Stadt verbannten.

Bei der jüngsten Parlamentswahl in Polen versuchte die herrschende Kaczynski-Partei, die polnischen Wähler durch ein gleichzeitig abgehaltenes Multi-Referendum zu beeinflussen. So wurden die Polen zur Beantwortung von Fragen aufgerufen wie: „Wollen Sie eine Heraufsetzung des Pensionsalters?“ Oder: „Wollen Sie Einwanderung aus dem Nahen Osten oder Afrika?“ Die von Donald Tusk vereinte Opposition rief zum Boykott solcher „Demokratie mit dem Scheunentor“ auf und gewann.

Doch nicht immer gehen Exkurse in die direkte Demokratie gut aus. In Chile wurde 2020 versucht, eine neue Verfassung unter Ausschluss der politischen Parteien zu erstellen. 155 direkt vom Volk gewählte Bürgervertreter arbeiteten in 16 Monaten einen Verfassungs-Vorschlag aus, der vielfach als das weltweit fortschrittlichste Grundgesetz gefeiert wurde.

Doch eine satte Mehrheit der Chilenen lehnte in einem Referendum die neue Verfassung ab. Daraufhin arbeitete der chilenische Kongress, in dem rechte Parteien dominierten, einen neuen Entwurf aus, gegen den linke Parteien und Gewerkschaften Sturm liefen. Beim zweiten Referendum sprach sich erneut eine deutliche Mehrheit der Bürger gegen den Verfassungs-Entwurf aus. Nach zwei gescheiterten Ausflügen in die direkte Demokratie muss Chile weiterhin mit der vom früheren Diktator Pinochet erlassenen Verfassung leben.

Für die Politologin Elke Weber von der Princeton University hat Demokratie einen Hang zum Status quo. Verluste werden höher gewichtet als mögliche Gewinne.

In Wirklichkeit ist Demokratie kein Zustand, sondern eine permanente Anstrengung. Bürger sollen Gehör finden. Doch haben die Lautstarken nicht automatisch recht. Für Bertrand Russel sind „Dummköpfe selbstsicher, Kluge voller Zweifel“.

Die Verfechter von „Bürgerräten“ wollen deshalb die ausgelosten „Basis-Vertreter“ mit Experten beglücken. Als ob „Experten“ unfehlbar seien.

Der Vorteil der repräsentativen Demokratie bleibt, dass man schlechte Regierungen abwählen kann. Autokraten meiden deshalb demokratische Wahlen. Oder funktionieren sie zum Plebiszit um. Per Referendum. So kam Hitler zur Allmacht!

Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre
liah1elin2
15. Februar 2024 - 14.03

@Carlo Allerdings muss man hinzufügen, dass praktisch alle Begehren, ob Petitionen, Initiativen oder Reverenden von rechts, jeweils am Volksmehr scheitern......was aufzeigt, dass direkte Demokratie sehr wohl funktioniert durch Ablehnung von Extrempositionen, egal ob von links oder rechts. Gespannt bin ich auf die Abstimmung zum 13. Gehalt der AHV......obwohl von den Gewerkschaften lanciert, hat sie grosse Chancen angenommen zu werden.

carlo
14. Februar 2024 - 13.13

Hier in der Schweiz gibt es kaum eine Abstimmung, die nicht von der rechtspopulistischen SVP oder vom Wirtschaftsverband Economiesuisse geschickt manipuliert wird. JA NEIN Entscheid auf emotionaler Basis und Angstmache, und kaum jemand der sich informiert.

Robert Hottua
13. Februar 2024 - 15.57

Die braune Allmacht wurde von der weltweiten schwarzen Macht aus Rom befürwortet, auch in Luxemburg. MfG Robert Hottua

fraulein smilla
13. Februar 2024 - 13.42

Nun kann man verstehen wieso Hidalgo als Kandidatin der Sozialisten es bei den Presidentielles 2022 auf stolze 1,75 % brachte .Immerhin noch vor dem Parti Anticapitalist und Force Ouvrière . -Was das Junckerreferendum zur Zeitumstellung angeht ,fuer die deutschen ist Grillen im Sommer bei Tageslicht ein Menschenrecht .Deshalb hatte sich die Mehrheit fuer die permanente Sommerzeit ausgesprochen .