ForumDie neuen Realitäten einer immer komplexeren Welt

Forum / Die neuen Realitäten einer immer komplexeren Welt
 Foto: AFP/Roberto Schmidt

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Das Ableben von Henry Kissinger erfolgt zum Zeitpunkt einer beunruhigenden Schieflage der Geopolitik. Alte Gewissheiten wanken. Der Krieg ist wieder ein Mittel der Politik zur Durchsetzung nationalistischer Interessen. Die Menschenrechte werden ignoriert, das Völkerrecht wird eigennützig zurechtgebogen.

Kissinger war zeitlebens ein „Realpolitiker“. Ein Machtmensch, der sich wenig um „ethische“ Bedenken kümmerte. Der alle Register ziehen konnte, um das gesetzte politische Ziel zu erreichen.

Es war Kissinger, Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon, der hinter einer der nachhaltigsten politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts stand: der taktischen Allianz zwischen den kapitalistischen USA und der kommunistischen Volksrepublik China. Womit die politische und wirtschaftliche Isolierung von Maos Reich durchbrochen wurde. Was den Aufstieg des bevölkerungsreichsten Landes zur wirtschaftlichen und damit politischen Großmacht einleitete.

Mit dem Vietnam-Krieg im Nacken wollten Nixon und Kissinger einen Keil zwischen die kommunistischen „Brüder“ Sowjetunion und China treiben. Was ihnen gelang. Dabei verhökerten sie den ständigen Sitz Chinas im UN-Sicherheitsrat an Mao. Der Anspruch der Nationalisten der Kuomintang in Taiwan, ganz China zu vertreten, wurde weggewischt. Washington unterzeichnete 1972 gar ein gemeinsames Statement mit Peking, in dem es heißt, es gebe nur „one China and (…) Taiwan is a part of it“.

Damit wurde eigentlich nur bestätigt, was Roosevelt und Churchill am 1. Dezember 1943 auf ihrem Gipfel in Kairo den damaligen chinesischen Alliierten zugesichert hatten: die Rückgabe der von Japan besetzten Insel Taiwan an Kuomintang-China! Was auch erfolgte – und die heutigen Ansprüche Chinas erklärt.

Die von Kissinger eingefädelte unheilige Allianz zwischen Nixon und Mao, nicht gerade ein erprobter Menschenrechtler, wurde zu einem wichtigen Element der amerikanischen „Containment“-Politik – die zum Zusammenbruch der Sowjetunion führte. Und zum Sieg der Amerikaner im „Kalten Krieg“.

Nixon und Kissinger hofften, dank ihres nunmehr besseren Drahtes zu China den Ausgang des Vietnam-Krieges zu beeinflussen. Wobei sie den Nationalismus Nord-Vietnams unterschätzten, das eisern am Ziel der Vereinigung Vietnams festhielt.

Nixon und Kissinger ließen, völkerrechtswidrig, Kambodscha und Laos bombardieren. Ohne den Vietcong zu besiegen. Deshalb fädelte der Realpolitiker Kissinger Geheimverhandlungen mit Hanoi ein, die es den USA erlaubten, sich aus dem vietnamesischen Hexenkessel zurückzuziehen. Kissinger kassierte gar einen Friedens-Nobelpreis für den „realpolitischen“ Deal – der letztlich zum völligen Zusammenbruch des südvietnamesischen Regimes und zur Vereinigung Vietnams unter kommunistischer Herrschaft führte.

Kissinger war Anhänger der Philosophie des „Westfälischen Friedens“, der „die Souveränität der Nationalstaaten“ zementierte, zu pragmatischen Lösungen für das Zusammenleben verschiedener Religionen führte sowie eine „vollständige Amnestie und Amnesie“ für die von allen Kriegsteilnehmern verübten Gräueltaten brachte. Er hatte deshalb nie Berührungsängste mit Diktaturen. Hingegen betrieb er den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, Salvatore Allende, in dem Nixon einen zweiten Fidel Castro sah. Dass der Putschist Pinochet nachher viel Blut an den Händen hatte, war kein Thema. Immerhin war das neue Regime Kapitalisten-freundlich.

Interessen dominieren

Geopolitik ist Interessenpolitik. Staaten entstehen durch Kriege. Danach führen sie Kriege, um sich wirtschaftlich wie politisch zu behaupten. Die großen Prinzipien sind schnell vergessen, wenn es um Einfluss, Macht und Märkte geht.

Die reichen Öl-Scheichs werden hofiert. Alle defilieren in Saudi-Arabien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und den anderen Golf-Staaten. Die Amerikaner, die Franzosen, die Deutschen, selbst die Israelis. Nunmehr Putin. China sowieso, als erster Handelspartner von 140 Nationen.

Für Kishore Mahbubani, indisch-stämmiger Politologe aus Singapur sowie dessen UN-Botschafter während zehn Jahren, sind die derzeitigen geopolitischen Verwerfungen das Resultat eines Lernprozesses. Europäer und Amerikaner hätten während 200 Jahren die Welt dank besserer Technologien, überlegener Waffen sowie einer effizienteren Organisation ihrer Wirtschaft dominiert. Das sei vorbei. Der Rest der Welt habe vom Westen gelernt, wie man erfolgreich Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie im eigenen Interesse einsetzt.

Putins Überfall auf die Ukraine wurde bloß von einer Handvoll Staaten applaudiert, von einer kleinen Mehrheit der UN-Vollversammlung verurteilt. Doch viele Staaten des „globalen Südens“ flüchteten sich in Enthaltung oder Stimmabstinenz. Die von den USA inspirierten Sanktionen gegen Russland begeistern nur die EU, Großbritannien, Japan, Australien, Kanada. Die bevölkerungsreichsten Staaten, China, Indien, Indonesien, Brasilien, Südafrika und viele andere betreiben weiterhin Handel mit den Russen. Etwa NATO-„Partner“ Türkei.

Nach dem Empfinden Israels fanden die terroristischen Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober keine eindeutige Verurteilung durch die Vereinten Nationen, die mit 120 Ja-Stimmen eine humanitäre Waffenpause in Gaza forderten. 45 Staaten enthielten sich der Stimme. Neben Israel und den USA stimmten bloß weitere zwölf Staaten dagegen: aus der EU Österreich, Kroatien, Tschechien und Ungarn, weiter Guatemala und Paraguay sowie die Pazifik-Konfettis Fidschi, Marshall, Mikronesien, Nauru, Papua und Tonga.

Versatile „Weltmeinung“

Besonders den USA wird eine doppelte Moral vorgeworfen – woran die „Realpolitik“ eines Kissinger nicht unschuldig ist. Die Bush, Vater und Sohn, säten viel Misstrauen. Nicht viele trauern Saddam Hussein oder Gaddafi nach. Doch die angeblich angestrebte Demokratisierung von Irak oder Libyen gerieten zu einem Desaster. Nur noch übertroffen von der verfehlten Enttalibanisierung Afghanistans.

Noch verheerender war die Außenpolitik des Donald Trump. Feind wie Freund wurden mit Sanktionen und Handelskriegen überzogen, Diktatoren wie Putin oder Kim Jong-un dagegen gehätschelt.

Die steigende Ablehnung der liberalen Weltordnung wurzelt oft in der Erinnerung an die Kolonialzeit. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Unabhängigkeit geben viele Staaten Afrikas weiterhin ihren früheren Kolonial-Herren die Schuld an ihrer derzeitigen Misere.

Der Sklavenhandel der Europäer und Amerikaner bleibt ein ewiges Schandmal. Es gab Sklaverei zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten. Der Sklavenhandel nach den Amerikas war nicht allein ein Geschäft der Weißen. Die meisten Sklaven wurden afrikanischen Häuptlingen oder arabischen Händlern abgekauft. Nachdem die Europäer und selbst die Amerikaner dem Handel mit Menschen ein Ende gesetzt hatten, lebte die Sklaverei in Afrika und Arabien noch lange weiter.

Die ehemaligen Kolonialisten haben viele Gemetzel zu verantworten. Doch nach der Unabhängigkeit setzten in vielen neuen Staaten blutige Bürgerkriege ein. Etwa in Nigeria/Biafra, Angola, Mozambik, Kongo, Ruanda/Burundi, Äthiopien, Somalia, Sudan oder der Sahel-Zone. Mit Hundertausenden Toten. Es fielen ebenfalls mehr Schwarze oder Araber Terroranschlägen zum Opfer als Europäer oder Amerikaner. Trotz „9/11“ oder „Bataclan“.

Beliebt bleibt dennoch in vielen Teilen der Welt die Anklage gegen den „Neo-Kolonialismus“ des Westens. Obwohl gerade in den USA und in Europa Selbstkasteiung im „Woke“-Büßergewand zur moralischen Pflicht wurde.

Kampf der Zivilisationen?

Gerät die Welt außer Fugen? Steuern wir auf den von Samuel Huntington angesagten „Kampf der Zivilisationen“ zu?

Der „American way of life“ hat sich weltweit durchgesetzt. Jeans, Caps, T-Shirts, Sweater, Fastfood, Hollywood-Filme, Jazz, Rock und Rap gibt es überall. Gleichzeitig bekommen traditionelle Trachten, nationale wie regionale Besonderheiten Auftrieb. Weder die Chinesen noch die Inder, Araber oder Indios wollen „Ehrenbürger“ des Westens werden.

Neue Technologien werden überall genutzt. iPhone, Laptops und Co. gehören zur Standardausrüstung aller Jugendlichen. „Soziale“ Medien dominieren die Kommunikation. „Artificial Intelligence“ wird dies noch verstärken. Aber ohne Übernahme der gefeierten „Werte“-Vorstellungen des „freien Westens“. Die „liberale Ordnung“, die „parlamentarische Demokratie“ sind in vielen Teilen der Welt kein Vorbild mehr. Andere Sorgen treiben die meisten Menschen um. George Orwell schrieb bereits 1940: „Leute mit einem leeren Magen verzweifeln nicht am Universum.“ Sie wollen leben und überleben, ohne Bevormundung aus Washington oder Brüssel.

Realpolitiker aufgepasst: Die neuen Realitäten werden euch einholen.

Robert Goebbels ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress
fraulein smilla
22. Dezember 2023 - 16.52

Warum keine Bibliographie zu diesem Forum . Kissinger ,Huntington ,Mahubani waern bestimmt eine intressante Lektuere fuer all unsere feministischen Aussenpolitiker mit ihrem binaeren Weltbild .

Lol
21. Dezember 2023 - 17.25

De Jenni a Menni soll sech endlech zu Rouh setzen.

de Schéifer vun Ettelbréck
21. Dezember 2023 - 12.55

Goebbels wusste schon immer alles besser und sah alles schon im Voraus. Schade, dass er nun zu alt ist um diese Welt noch zu retten!