Ist es Idealismus, Idiotie, Weitsicht oder eine gezielte Provokation zugunsten Russlands? Zehn Tage ist es nun her, seit Jaroslaw Kaczynski bei einem mutigen Besuch in Kiew eine „NATO-Friedensmission“ für die Ukraine forderte. Diese sollte laut dem mächtigsten Mann Polens mit „Zustimmung des ukrainischen Präsidenten“ auf „ukrainischem Territorium agieren“ und „humanitäre und friedliche Hilfe“ leisten. Dabei solle sie allerdings „von Streitkräften geschützt“ werden und auch „in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen“. Die NATO lehnte Kaczynskis Begehren sofort dezidiert ab, da dies einen Kriegseintritt bedeute und den Dritten Weltkrieg provozieren könnte.
Der Chef der rechtspopulistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) aber gibt sich uneinsichtig und verteidigte seine Initiative am Freitag, dem ersten Besuchstag des US-Präsidenten Joe Biden in Polen. „So etwas ist im internationalen Recht vorgesehen“, sagt Kaczynski in einem Interview, „niemand wird schließlich nach Russland vordringen“.
Gewagte Langzeitstrategie
Doch Teile der liberalen Opposition schließen eine in letzter Konsequenz pro-russische Komponente der PiS-Regierungspolitik gegenüber der Ukraine nicht aus. Eine NATO-Intervention in der Ukraine könnte Wladimir Putin etwa einen Rückzug seiner bisher wenig erfolgreichen Invasionstruppen unter Wahrung seines Gesichts erlauben – und damit sein Weiterregieren. Russland wäre demnach nicht der seit 2014 verhöhnten, angeblich „faschistischen“ Ukraine unterlegen, sondern hätte den Dritten Weltkrieg verhindert.
Ein abenteuerliches Gedankenspiel vielleicht, aber ein Blick auf die Politik der Kaczynski-Regierung liefert glaubhafte Hinweise dafür, dass seine PiS seit sechs Jahren konsequent eine Langzeitstrategie verfolgte, die die Ukraine zurück in den Einflussbereich Moskaus bringen und Polen zu einer Pufferzone zwischen Russland und dem Westen machen sollte. Diesem Ziel geschuldet ist etwa das Hinarbeiten von Politikern im engen Umfeld Kaczynskis auf einen EU-Austritt.
PiS hat sich dazu in ihrem national-konservativen Eifer seit dem Wahlsieg im Herbst 2015 selber vieler außenpolitischer und auch militärischer Kompetenzen beraubt. Kaczynski hatte als Parteichef einen Elitenwechsel propagiert und praktisch sämtliche Generäle ausgetauscht. Außenpolitisch igelte sich das Land immer mehr ein. Zwar wird die strategische Freundschaft mit den USA offiziell hochgehalten – doch hinter verschlossenen Türen wird in PiS-Kreisen gegen alle ausgeteilt, die rechtsstaatliche Prinzipien, Versammlungs- und Medienfreiheit, Frauenrechte und den Schutz sexueller Minderheiten fordern.
Dabei beschreitet Kaczynskis PiS einen ähnlichen Pfad, wie Putin ihn in Russland ab 1999 vorgezeichnet hat. Der Parteichef Jaroslaw Kaczynski regiert autoritär, das Verfassungsgericht wird entmachtet, die gewöhnlichen Gerichte den Parteiinteressen unterworfen, die staatlichen Medien gleichgeschaltet und die Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt, die Versammlungsfreiheit beschnitten. Kaczynski und seine Anhänger sehen sich ähnlich wie Putin als Retter des christlichen Abendlandes, man setzt auf moralische Erneuerung, tritt gegen LGBT und andere Minderheiten, schränkt das restriktive Abtreibungsrecht weiter ein.
Schwerer Abschied von Trump
Bis zuletzt setzten Kaczynski, seine PiS-Regierung und auch Staatspräsident Andrzej Duda (ehemals PiS) auch auf Donald Trump. Tagelang halten sie an Trumps angeblicher Wiederwahl und angeblichen Wahlfälschungen fest. Selbst der Sturm aufs Kapitol wird vom Staatsfernsegen TVP nicht eindeutig verurteilt. Erst nach Joe Bidens Amtseinsetzung am 20. Januar 2021 schwenkt Warschau nolens volens um. Doch noch Ende 2021 wird mit PiS-Mehrheit ein Gesetz gegen das beliebteste oppositionelle Privatfernsehen TVN gestimmt. TVN, eine US-Investition, soll so zum Zwangsverkauf seiner Aktien gezwungen werden, idealerweise an den Staat.
Nun wollen heute Samstag der von Kaczynski eingesetzte Regierungschef Mateusz Morawiecki und der liberale Oppositionspolitiker und Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski Joe Biden gemeinsam auf einem Besuch bei ukrainischen Flüchtlingen im Nationalstadion begleiten. Das von Kaczynski von der Hinterbank regierte Polen will den USA offenbar Einheit angesichts der Bedrohung durch Russland signalisieren. Kaczynskis Reise ins umzingelte Kiew vor zehn Tagen kann so ebenfalls als Versuch einer Reinwaschung gelesen werden. Zumal Kaczynski zusammen mit den drei Regierungschefs Polens, Tschechiens und Sloweniens im Auftrag der EU dorthin gereist sein will. Jener EU, die angeblich das christliche Abendland gefährdet und Polen unterjochen will.
De Maart
Für Polen(Ungarn) scheint die EU vor allem eines zu sein.Ein Geldgeber.