Donnerstag30. Oktober 2025

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StandpunktWarum Russlands Krieg in der Ukraine eine Feuerprobe für die europäische Souveränität ist

Standpunkt / Warum Russlands Krieg in der Ukraine eine Feuerprobe für die europäische Souveränität ist
Die Fahne der Europäischen Union weht vor dem Schloss in Versailles im Wind. Hier kamen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu einer informellen zweitägigen Tagung zusammen Foto: dpa/Kay Nietfeld

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Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine hat die EU als geopolitischer Akteur einen gewaltigen Sprung gemacht.

Das beispiellose Sanktionspaket gegen Russland, das von Tag zu Tag verschärft wird und – was den Druck noch weiter erhöhen würde – möglicherweise bald auch Kohle-, Öl- und Gasexporte betrifft, und das 100-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Ukraine, das auch lebenswichtige Hilfsmaßnahmen umfasst, die über einen EU-Knotenpunkt in Polen abgewickelt werden, sind Maßnahmen, von denen Außenpolitik-Expert:innen vor wenigen Wochen kaum zu träumen wagten. Die weit gesteckte Definition von Sicherheit, das zentrale Thema der Tagung der EU-Staats- und Regierungschefs in dieser Woche in Versailles, verdeutlicht, dass sich im Verständnis europäischer Regierungen von der notwendigen Zusammenarbeit in einer zunehmend von Bedrohungen geprägten Welt etwas grundlegend gewandelt hat.

Die Ergebnisse aus einer neuen Umfrage, die vom ECFR im Januar 2022 in Auftrag gegeben wurde, deuten jedoch darauf hin, dass die zögerliche Haltung der europäischen Regierungen bei der kollektiven Verteidigung ihrer strategischen Interessen – und Werte – bis zum historischen Einschnitt der russischen Invasion vor allem darauf zurückzuführen sein könnte, dass der Rückhalt in der europäischen Öffentlichkeit für einen Ausbau der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit grob unterschätzt wurde.

Diese Fehleinschätzung seitens der europäischen Regierenden hatte einen hohen Preis. Über Jahre hinweg hat Wladimir Putin immer wieder ausgetestet, wie sehr die EU bereit sein würde, die seit dem Kalten Krieg entstandene Ordnung und letztlich auch die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU zu verteidigen. Die Annexion der Krim, die Ermordung von Litwinenko, die Anschläge auf die Skripals und die Inhaftierung des Oppositionsführers Alexei Nawalny sind nur einige der augenfälligsten Beispiele für diese Vorgehensweise. Doch im Hintergrund ist nicht zuletzt die Angreifbarkeit der Europäer für Cyberangriffe, Desinformationskampagnen und die Einmischung in Wahldebatten im Internet eine wesentliche Komponente im Gesamtbild. Putin hatte angesichts der verhaltenen europäischen Reaktionen auf seine Testläufe damit gerechnet, dass die Invasion in der Ukraine keine größeren Widerstände auslösen würde. Doch nun haben wir wieder Krieg in Europa.

Rechtsstaatlichkeit verteidigen

Die Tragödie in der Tragödie besteht darin, dass die europäische Öffentlichkeit offenbar Putins Einschätzung teilt, dass die europäische Sicherheitszusammenarbeit noch nicht stark genug ist, um sich gegen eben jene Bedrohungen zu behaupten, die Europäer:innen Anlass zur Sorge geben. Selbst in den Wochen vor Russlands Einmarsch in der Ukraine, als unsere Umfrage durchgeführt wurde, sprachen sich die Befragten mehrheitlich für eine europäische Zusammenarbeit aus, um die Sicherheit an ihren Grenzen zu gewährleisten und zukünftige Pandemien zu bekämpfen. Als wir jedoch wissen wollten, wie sie die bisherige Reaktion der EU auf Russlands Einmischung in Osteuropa (Ukraine und Belarus) bewerteten, zeigen die Befragten mehrheitlich negative Reaktionen; die häufigste Antwort war Besorgnis (31 Prozent), einige äußerten sich aber auch wütend (15 Prozent) oder traurig (11Prozent). Falls es also die Angst vor mangelnder Unterstützung in der eigenen Bevölkerung war, die Europas Entscheidungsträger:innen bremste, so hätten sie ihre Sanktionen schneller auf den Weg bringen und so Putin warnen können, dass ein Einmarsch in die Ukraine weitreichende Folgen haben würde.

Aber die Wahlberechtigten in Europa stehen offenbar auch auf dem Standpunkt, dass die Verteidigung internationaler Rechtsstaatlichkeit – jenes Systems, das Putin angreift – bei uns selbst ansetzen muss

Die Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine ist eine Feuerprobe für die europäische Souveränität und überhaupt für unsere Kompetenz, das europäische Lebensmodell zu verteidigen. Aber die Wahlberechtigten in Europa stehen offenbar auch auf dem Standpunkt, dass die Verteidigung internationaler Rechtsstaatlichkeit – jenes Systems, das Putin angreift – bei uns selbst ansetzen muss: Gefragt, wie mit EU-Mitgliedstaaten, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verletzen, umgegangen werden sollte, stimmten die Umfrageteilnehmer:innen mit großer Mehrheit jeder der von uns vorgeschlagenen rigorosen Maßnahmen zu. 61 Prozent vertreten die Meinung, dass die EU die Befugnis haben sollte, Regierungen öffentlich zu kritisieren, 58 Prozent befürworten die Einbehaltung von Geldmitteln aus dem Strukturfonds für den betreffenden Mitgliedstaat, 52 Prozent befürworten das Aussetzen des Stimmrechts im EU-Rat. Unsere Überzeugungskraft, Putin zur Einhaltung von Regeln aufzufordern, wird letztlich dadurch untergraben, dass sich nicht alle Mitgliedstaaten innerhalb der EU an die eigenen Regeln halten – was vermutlich zu seinem Verständnis beitrug, ein Einmarsch in die Ukraine wäre eine zügige und relativ unbeanstandete Aktion. Wenn wir unseren eigenen EU-Besitzstand verletzen, wie können wir ihm dann eine Verletzung des Völkerrechts ankreiden?

EU derzeit beste Option

In diesen dunklen Zeiten gibt es dennoch einen Silberstreif am Horizont. Die harte Haltung der EU seit der Invasion am 24. Februar scheint die Europäer:innen in ihrer Ansicht bestärkt zu haben, dass in einer beunruhigenden weltpolitischen Lage die EU ihre beste Option ist, wenn diese Erkenntnis auch mit einiger Verspätung kommt. Zwar äußerten 58 Prozent der Befragten die Meinung, dass ihre nationalen politischen Strukturen nicht gut funktionieren, und überwiegende Mehrheiten beurteilen die internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf globale Herausforderungen als unzureichend (71 Prozent beim Thema Klima und 60 Prozent beim Kampf gegen Corona), doch die Akzeptanz der EU ist weiterhin hoch: 59 Prozent der Europäer befürworten die weitere Mitgliedschaft ihres Landes in der EU-27, und in zehn der zwölf befragten Mitgliedstaaten überwiegt die Meinung, dass das EU-System gut funktioniert.

Wenngleich die EU bedauerlicherweise zu spät gezeigt hat, wozu sie fähig ist, hat sie nun die Chance, die Sicherheitszusammenarbeit zu vertiefen, um erstens Putin zu zeigen, dass die Kosten seines grausamen und nicht zu rechtfertigenden Krieges zu hoch sein werden, und zweitens die zukünftige politische Ordnung nach dem Krieg zu bestimmen.

* Susi Dennison leitet das „European Power“-Programm beim European Council on Foreign Relations (ECFR).