Es ist der Soundtrack zur aktuellen Krise. „Nie wieder Krieg“ singen die Pop-Intellektuellen von Tocotronic auf ihrem neuen Album. Was in Europa lange unvorstellbar schien, droht nun in der Ukraine, zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Tocotronic prägten über fast drei Jahrzehnte die sogenannte Hamburger Schule. Olaf Scholz sind die drei Musiker ein Begriff. Als er noch Bürgermeister der Hansestadt war, suchte er gern die Nähe lokaler Künstler. Deren Audio-Botschaft ist auch seine: Nie wieder Krieg, oder realistischer, erst einmal kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine – das ist die Mission, mit der der Kanzler zu seinem Antrittsbesuch in die USA aufbricht.
Am Montag empfängt ihn Joe Biden zum Mittagessen und Vieraugengespräch im Weißen Haus. Ein Handschlag im Oval Office ist pandemiebedingt unwahrscheinlich, aber vielleicht reichen sich die beiden Männer die Corona-Faust. Auf jeden Fall wird die Stimmung gelöster sein als 2017. Damals ignorierte Donald Trump hartnäckig „Handshake“-Rufe der Fotografen und die darauf wartende Kanzlerin Angela Merkel. Dafür ist Scholz spät dran. Erst 60 Tage nach seiner Kanzlerwahl erscheint er beim engsten Verbündeten. Merkel war da 2005 längst in der US-Hauptstadt und Moskau gewesen. Gerhard Schröder reiste 1998 schon nach 18 Tagen in die USA, um Bill Clinton zu treffen.
In den USA ist zum Teil der Eindruck entstanden: Die Deutschen haben nicht mehr alle Tassen im Schrank
Während das Kanzleramt die Beziehungen zur Biden-Administration nach den frustrierenden Trump-Jahren auf einem „Allzeithoch“ wähnt, wird Scholz von Teilen der US-Medien und den Republikanern argwöhnisch gesehen. Wie sehr ist auf die Deutschen Verlass, falls Putin in der Ukraine Ernst macht und seine an den Grenzen stationierten mehr als 100.000 Soldaten gen Kiew in Marsch setzt? Warum will Berlin die Ukraine nicht mit Defensivwaffen ausrüsten? Würde Scholz die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 wirklich opfern?
So kritisiert der republikanische US-Senator Jim Risch, Verhandlungsführer der Trump-Partei für mögliche Russland-Sanktionen, das Berliner Agieren als enttäuschend. Deutschland müsse mehr tun, um die Ukraine zu schützen. „Ich bin mir zwar der langjährigen deutschen Politik in Bezug auf Waffenlieferungen bewusst, aber die Situation in der Ukraine, und darüber besteht Einstimmigkeit bei den NATO-Verbündeten, ist so einzigartig, dass Deutschland seine Haltung überdenken sollte“, sagt Risch.
Auch die FDP-Verteidigungspolitikerin Agnes Strack-Zimmermann fürchtet, dass die bisherige Außenpolitik der Ampel in Washington nicht gut angekommen sei: „In den USA ist zum Teil der Eindruck entstanden: Die Deutschen haben nicht mehr alle Tassen im Schrank“, sagt die Düsseldorferin. Scholz müsse bei seinem Besuch klarstellen, dass Deutschland verlässlicher Partner sei. Im Kanzleramt weist man darauf hin, dass die Republikaner die Ukraine-Krise innenpolitisch nutzten, um Biden zu schaden. Deshalb zielten sie auch auf Scholz, der sich eng mit dem US-Präsidenten abstimme.
Erste Krise nach Amtsantritt
Erschwert wird das außenpolitische Geschäft für den Kanzler durch den Genossen Schröder. In Teilen Washingtons, mehr noch in Osteuropa, wird Schröders hoch dotierte Partnerschaft mit Putin (die mit dem geplanten Einzug in den Gazprom-Aufsichtsrat neue Früchte für den Altkanzler abwerfen soll) als Beleg für Berlins angeblich zu große Moskau-Nähe genommen. Unter der Woche sah sich Scholz in einem seiner seltenen Fernsehinterviews zu einer Klarstellung in Richtung Schröder gezwungen: „Wenn ich die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland richtig verstehe, gibt es nur einen Bundeskanzler, und das bin ich.“
Allerdings steckt der Merkel-Nachfolger zwei Monate nach Amtsantritt in einer ersten Krise. Mit voller Wucht erwischt ihn die Unzufriedenheit der Bürger. In einer Insa-Umfrage für die Bild am Sonntag sagen 65 Prozent der Befragten, dass Scholz in der Corona-Pandemie und der Ukraine-Krise nicht entschlossen genug handelt. Mit der Arbeit der Ampel sind 56 Prozent unzufrieden und nur 30 Prozent zufrieden. Auch im ARD-„Deutschlandtrend“ von Anfang Februar lag die Union mit 27 Prozent erstmals seit der Bundestagswahl wieder vor der SPD, die auf 22 Prozent absackte. Scholz hat die nötige Erfahrung und Härte, sich nicht von Umfragen treiben zu lassen. Anders wäre er nie ins Kanzleramt gekommen. Doch auch er spürt, dass in besonderen Zeiten besondere Signale erforderlich sind.
So ist der Biden-Besuch der Auftakt einer zweiwöchigen diplomatischen Offensive, mit der Scholz auf der Weltbühne Eindruck hinterlassen will. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Washington empfängt er in Berlin Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Polens Staatschef Andrzej Duda. Außerdem spricht er mit den baltischen Regierungschefs. Macron ist am Montag bei Putin. Scholz selbst wird am 14. Februar in Kiew sein, einen Tag später reist er in die Höhle des russischen Löwen nach Moskau.
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können