Dutzende Tote, Tausende Festnahmen und Hunderte Verletzte gibt es bisher bei den blutigen Unruhen in der öl- und gasreichen Ex-Sowjetrepublik Kasachstan in Zentralasien. In der Millionenstadt Almaty und anderen Städten läuft ein von russischen Truppen geführter Militäreinsatz, um für Ordnung zu sorgen. Dass der Einmarsch – durch Kontakte von Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Kollegen Kassym-Schomart Tokajew in Kasachstan und Alexander Lukaschenko in Belarus – binnen Stunden zustande kam, gilt als beispiellos in der Geschichte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Gerade erst feierte Kasachstan 30 Jahre Unabhängigkeit von Moskau. Nun dankt Tokajew der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – einer bisher zahnlosen Antwort auf die NATO – für ihre Hilfe. Der frühere Diplomat übernahm das Präsidentenamt 2019 von seinem politischen Ziehvater Nursultan Nasarbajew. Doch der 81-Jährige galt auch nach seinem Rücktritt weiter als der eigentlich starke Mann im Land. Schon lange fragen sich Beobachter, ob der Apparatschik Tokajew das Zeug hat, das unter Nasarbajew mit harter Hand geführte Land an der Grenze zu China auf Kurs zu halten. Nun lässt er auf Demonstranten schießen.
Der in Almaty lebende Politologe Marat Schibutow sieht die Unruhen als Ergebnis großer wirtschaftlicher Probleme und Armut. „Bei uns kann nicht einmal derjenige, der ständig arbeitet, seinen Lebensunterhalt bestreiten“, schreibt er in seinem Blog bei Telegram. Der Ärger über die Verdopplung der Preise für Flüssiggas, das als Treibstoff für Autos dient, sei nur Auslöser der Proteste. Angesichts der hohen Gaspreise auf dem Weltmarkt sei der Rohstoff an das Ausland verkauft worden, im Land entstand ein Defizit. Deshalb seien die Aufständischen zunächst in vielen Städten unterstützt worden.
Bei uns kann nicht einmal derjenige, der ständig arbeitet, seinen Lebensunterhalt bestreiten
Zwar sind die Preise für Verbraucher wieder gesenkt worden, doch die Proteste haben sich politisiert. Schibutow berichtet von einer „kritischen Lage“ in der Stadt, von einem versuchten „Staatsstreich“; es seien Läden geplündert und Gebäude gebrandschatzt worden. Menschen hätten sich auch in Waffengeschäften ausgerüstet. Die Sicherheitskräfte hätten dann die Kontrolle über die Lage verloren.
Auch Lukaschenko mischt mit
Nach dem Hilferuf Tokajews prägen gepanzerte Fahrzeuge und Uniformierte das Bild, wie Videos in sozialen Netzwerken zeigen. Die verfassungsmäßige Ordnung sei wieder hergestellt, verkündete der Staatschef am Freitag.
Dieser Militäreinsatz sei ein Kurswechsel im postsowjetischen Raum, meint der russische Politologe Fjodor Lukjanow. Unter dem Vorwand einer Bedrohung der staatlichen Sicherheit von außen sei hier ein „Präzedenzfall“ für einen Einmarsch geschaffen worden. Der Chefredakteur des Fachmagazins Russland in der globalen Politik sieht den Aufstand als einen inneren Konflikt, als Ergebnis von Machtkämpfen zwischen korrupten Clans. Tokajew behauptet dagegen, im Ausland trainierte „terroristische Banden“ seien in Almaty am Werk.
Beweise dafür gibt es nicht. Aber auch in Belarus bezeichnete Machthaber Alexander Lukaschenko seine Gegner als „Terroristen“, obwohl die friedlich demonstriert hatten. In Belarus, das 2020 nach der umstrittenen Präsidentenwahl von Protesten erschüttert wurde, reichte eine Drohung Putins, dort mit russischen Einsatzkräften Lukaschenkos Macht zu sichern. Und die Proteste verliefen im Sand.
Lukaschenko war nun auch im Fall Kasachstans der lauteste Wortführer, dort einzugreifen. „Wir werden Kasachstan nicht hergeben“, sagte er in Minsk. Auch Soldaten aus Belarus, Armenien, Kirgistan und Tadschikistan sollen in Kasachstan nun für Ruhe sorgen. Allein die Zahl der Russen liege bei um die 5.000, wie Medien in Moskau melden.
Aus russischer Sicht sei es neuerdings offenbar zulässig, sich allein aus der Motivation eines Machterhalts heraus einzumischen, wenn die Sicherheit eines Landes auf dem Spiel stehe, kommentiert Lukjanow. „Die russische Führung hat sich entschieden, nicht zu warten, bis die Flammen voll ausschlagen, sondern zu handeln.“ Weder Kasachstans immer wieder von Umstürzen erschütterter Nachbar Kirgistan noch andere konnten bisher auf solche Hilfe setzen.
Nur wenig dringt nach außen
Tokajew begibt sich aus Sicht von Beobachtern nun in Abhängigkeit von Putin. Der Kremlchef sieht das rohstoffreiche Kasachstan seit langem als seinen Einflussbereich – und will etwa eine Zurückdrängung der russischen Sprache oder eine Ansiedlung von US-Militär verhindern. In Kasachstan liegt auch der russische Weltraumbahnhof Baikonur. Putin habe jetzt dem Westen seine Macht demonstriert, sagt Lukjanow auch mit Blick auf seine jüngsten Forderungen an die NATO, sich von Russland fernzuhalten, weil es sich von der Allianz bedroht sehe.
„Russland hat hier seine Fähigkeit gezeigt, schnelle und unerwartete Entscheidungen in der militärisch-politischen Sphäre zu treffen und auf Geschehnisse in für sie wichtigen Teilen der Welt einzuwirken“, sagt Lukjanow. Derweil sind die Sorgen im Westen groß, dass Russland nach der Hilfe für „Diktator“ Lukaschenko in Belarus nun durch den Rückhalt Tokajews seinen Einfluss auch in Kasachstan ausbauen könnte. Westliche Befürchtungen, Putin wolle die Sowjetunion neu errichten, weist der Kreml allerdings immer wieder kategorisch zurück.
Aus dem neuntgrößten Land der Erde dringt im Moment noch weniger als sonst nach außen. Das Internet ist blockiert. Der immer wieder auch wegen Menschenrechtsverstößen kritisierte Machtapparat geht mit Schießbefehl gegen die Aufständischen vor – ausländische Journalisten werden derzeit nicht ins Land gelassen. (dpa)
Tokajew: Schüsse auf Demonstranten erlaubt
Nach den tagelangen gewaltsamen Protesten in Kasachstan hat Staatschef Kassym-Schomart Tokajew den Sicherheitskräften die Erlaubnis erteilt, auf Demonstranten zu schießen. „Ich habe den Befehl gegeben, ohne Vorwarnung tödliche Schüsse abzugeben“, sagte Tokajew gestern in einer Fernsehansprache. Verhandlungen zur Beilegung der Krise schloss er aus. Die Sicherheitskräfte sperrten strategische Bereiche der Stadt Almaty ab und schossen in die Luft, wenn sich jemand näherte. Im Westen sorgte der Schießbefehl für Empörung. Das zentralasiatische Land wird seit Tagen von beispiellosen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften erschüttert. Proteste, die sich zunächst gegen steigende Gaspreise gerichtet hatten, weiteten sich zu regierungskritischen Massenprotesten im ganzen Land aus. Die Wut der Demonstranten richtet sich auch gegen den autoritären Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der weiterhin als höchst einflussreich gilt.
Almaty, die größte Stadt des Landes und wirtschaftliches Zentrum, sei von „20.000 Banditen“ angegriffen worden, erklärte Tokajew. Die „Terroristen“ hätten einen klaren Plan gehabt und seien „bereit für den Kampf“ gewesen. Westliche Aufrufe, mit den Demonstranten zu verhandeln, bezeichnete der Präsident als „absurd“. „Was für Verhandlungen kann man mit Kriminellen, mit Mördern führen?“, fragte er. Sie müssten „vernichtet werden“. In seiner TV-Ansprache dankte Tokajew seinem Verbündeten, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, „ganz besonders“ für seine Hilfe. Eine Truppe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) unter russischer Führung unterstützt derzeit die kasachischen Sicherheitskräfte. Im Westen löste der Schießbefehl Bestürzung aus: „Ich verfolge die Lage in Kasachstan mit großer Sorge“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mahnte zur „Deeskalation“. Der chinesische Präsident Xi Jinping lobte hingegen Tokajews Schießbefehl: „Sie haben in kritischen Momenten starke Maßnahmen ergriffen und die Situation schnell beruhigt“, erklärte Xi laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua.
Das kasachische Innenministerium teilte mit, alle Regionen des Landes seien „befreit und unter verstärkten Schutz gestellt“ worden. Der „Anti-Terror-Einsatz“ werde fortgesetzt, sagte Tokajew. Er bezichtigte „die freien Medien und bestimmte Personen im Ausland“, zu den Protesten angestachelt zu haben. (AFP)

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