HintergrundIn Großbritannien tobt ein Streit um den Verkauf wichtiger Rüstungsunternehmen

Hintergrund / In Großbritannien tobt ein Streit um den Verkauf wichtiger Rüstungsunternehmen
Probleme mit dem freien Markt: der britische Premier Boris Johnson und sein Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng  Foto: dpa/Jane Barlow

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Wie viel freien Markt kann sich Großbritannien leisten? Der Streit um den Verkauf wichtiger Rüstungsunternehmen bringt die Brexit-Regierung in Bedrängnis.

Der chaotische Abzug aus Afghanistan hat der britischen Öffentlichkeit brutal die militärische Abhängigkeit ihres Landes von Amerika vor Augen geführt. Umso dringlicher werden die Forderungen von Außen- und Verteidigungsexperten sowie Börsianern, die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson müsse strategisch wichtige Rüstungsunternehmen im Land halten. Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng hat jetzt die Übernahme eines bedeutenden Zulieferers der Royal Navy durch eine US-Firma vorläufig blockiert und die Kartellbehörde mit der Prüfung des Deals beauftragt: „Ausländische Investitionen dürfen nicht unsere nationale Sicherheit bedrohen.“

Dass die Regierung ausgerechnet einer amerikanischen Firma Steine in den Weg legt, gewinnt durch die aktuelle Situation an Pikanterie: In London wie in anderen westlichen Hauptstädten herrscht ohnmächtiger Ärger über Präsident Joe Bidens Afghanistan-Abzug, weil dieser die eigene Hilflosigkeit drastisch bloßgelegt hat. Kwarteng reagiert aber weniger auf die aktuelle Politik als vielmehr auf längerfristige Bedenken gegen den Ausverkauf britischer Firmen an Investoren aus aller Welt.

Misstrauen gegenüber China

Zuletzt konzentrierte sich das Misstrauen vor allem auf Investitionen chinesischer Firmen. Diese werden als zu wenig unabhängig vom zunehmend aggressiv auftretenden Pekinger nationalkommunistischen Regime wahrgenommen. Vor Jahresfrist schloss der Nationale Sicherheitsrat den Telekomgiganten Huawei vom 5G-Mobilfunknetz auf der Insel aus. Ins Wanken geraten ist auch ein gewaltiger Deal im Energiesektor. Dem Vernehmen nach will Johnsons Regierung den chinesischen Staatskonzern CGN aus dem Konsortium zum Bau der zwei Atomkraftwerke Sizewell C und Bradwell B drängen. London zögert aber, weil CGN auch eine Minderheitsbeteiligung am AKW Hinkley Point C hält, dessen Bau durch den französischen Energiegiganten EDF ohnehin mit immer neuen Verzögerungen und Verteuerungen zu kämpfen hat.

Ausländische Investitionen dürfen nicht unsere nationale Sicherheit bedrohen

Kwasi Kwarteng, Britischer Wirtschaftsminister

In der Rüstungsindustrie gehören transatlantische Verbindungen zur Tradition. BAE Systems, vom Stockholmer Sipri-Institut als weltweit siebtgrößter Waffenlieferant mit einem Umsatz von 18,8 Milliarden Euro geführt, macht einen Großteil seiner Geschäfte in den USA. Auch viele Zulieferer sind von den größten Streitkräften der Welt abhängig. Das gilt für das Luftfahrt-Unternehmen Meggitt, das unter anderem Räder und Bremsen für den Bau des US-Kampfhubschraubers Apache des Boeing-Konzerns herstellt.

Um die im mittelenglischen Coventry ansässige Firma ist ein Bieterstreit zwischen zwei amerikanischen Konkurrenten entstanden. Das Meggitt-Management hat bereits dem Kauf durch Parker-Hannifin zum Preis von umgerechnet 8,27 Milliarden Euro zugestimmt; diese Woche drohte die ebenfalls in Cleveland ansässige TransDigm-Gruppe mit einer feindlichen Übernahme, bei der Meggitts Wert mit 9,1 Milliarden Euro beziffert wird. Dem englischen Börsenrecht zufolge muss die Gruppe binnen vier Wochen ein ordentliches Angebot vorlegen.

Wort nicht gehalten

Bereits vollzogen schien der Kauf des Marine-Zulieferers Ultra Electronics durch die Bostoner Private-Equity-Firma Advent International; auch hier stimmte der Vorstand des börsennotierten Unternehmens dem Preis von 2,6 Milliarden Pfund (3 Milliarden Euro) zu. Dass Kwarteng den Deal vorläufig gestoppt hat, dürfte mit der wesentlich empfindlicheren Technik zu tun haben, die von den 4.500 Mitarbeitern der Londoner Firma hergestellt wird: Unter anderem steuern Ultra-Bauteile die atomar angetriebenen Unterseeboote der Royal Navy, auch die nuklear bewaffneten der Vanguard-Klasse.

Für hochgezogene Augenbrauen sorgt auch der Käufer. Erst im vergangenen Jahr erwarb Advent nach längerer Kontroverse den britischen Luftfahrtzulieferer Cobham. Wie auch jetzt beim Ultra-Deal wurde der Kauf von allerlei schönen Versprechungen begleitet, das technische Knowhow zu erhalten und weiterzuentwickeln. In Wirklichkeit wurde das traditionsreiche Unternehmen blitzschnell in seine Einzelteile zerlegt, lukrative Unternehmenssparten für schöne Gewinne weiterverkauft, die Produktion in Großbritannien eingestellt. Advent entsprach damit dem verheerenden Image von Private Equity (PE): Die einst vom deutschen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering als „Heuschrecken“ denunzierte Branche ist darauf spezialisiert, rasche Gewinne für die eigenen Anteilseigner zu erwirtschaften, häufig auf dem Rücken von Arbeitnehmern und Zulieferern.

Gewerkschaften besorgt

Dementsprechend lautstark fallen die Proteste von Rüstungsexperten und Gewerkschaften aus. Steve Turner von der zuständigen Gewerkschaft Unite sieht die Stabilität und langfristige Innovation des Sektors bedroht. Der konservative Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, Tobias Ellwood, warnt vor „dem Ausbluten unserer Industrie“; dadurch werde man in der Beschaffung von Waffen und Material noch abhängiger vom Ausland als ohnehin schon. Der frühere Chef der Royal Navy, Admiral Alan West, verweist auf die erst im Frühjahr erneuerte Regierungsdoktrin (integrated review) zur Außen- und Sicherheitspolitik, in der die Bedeutung nationaler Ressourcen wie leistungsfähiger Waffenhersteller beschworen wird. „Da müssen die Minister mehr Härte zeigen“, glaubt das Mitglied des Oberhauses.

Betroffen vom Kaufrausch ausländischer, vor allem amerikanischer Unternehmen ist keineswegs nur die Rüstungsbranche. Aufsehen erregt auch der Bieterkampf um den 122 Jahre alten Einzelhändler Morrison, die viertgrößte Supermarktkette des Landes. In den vergangenen acht Monaten gaben Investoren mehr Geld für britische Firmen aus als in den fünf Jahren zuvor. Bis Ende Juli wechselten in diesem Jahr dem Datensammler Refinitiv zufolge Unternehmen im Gesamtwert von 169 Milliarden Euro den Besitzer. Für die Bonanza dürfte aufgestauter Bedarf nach der Zögerlichkeit infolge des Brexit-Referendums von 2016 eine Rolle spielen. Zudem steht der Dollar gegenüber dem Pfund hoch im Kurs.

Es bleibt spannend

Ob Kwarteng mit der Einschaltung der Wettbewerbsbehörde lediglich aufgeregte Börsianer und Analysten in der Londoner City beruhigen oder tatsächlich den Investoren größere Zugeständnisse abverlangen will, bleibt offen. Der Minister gehört zu einer Riege einflussreicher Torys, die vor einem Jahrzehnt dem praktisch ungehinderten freien Markt das Wort redeten. Hingegen hat die Brexit-Regierung eine aktivere Industriepolitik angekündigt; damit wollen die Konservativen den Bedenken der Menschen in bisher benachteiligten Regionen Rechnung tragen.

An Neujahr tritt deshalb ein neues Gesetz in Kraft, das der Regierung größere Interventionsmöglichkeiten einräumt, wenn Ausländer in sicherheitsrelevante Firmen investieren wollen. Die Prüfung des Ultra-Deals muss spätestens Mitte Januar beendet sein.