AfghanistanMacron leitet Krisensitzung, Merkel spricht von „bitteren Stunden“ – Dienstag Treffen der EU-Außenminister

Afghanistan / Macron leitet Krisensitzung, Merkel spricht von „bitteren Stunden“ – Dienstag Treffen der EU-Außenminister
Zeitungen an einem Stand in Islamabad, Pakistan Foto: AFP

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Nachdem die radikalislamischen Taliban wieder die Macht in Afghanistan übernommen haben, reagiert der Westen – praktisch als auch politisch. 

20 Jahre nach ihrem Sturz haben die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder übernommen. Am Montag patrouillierten schwer bewaffnete Kämpfer der Miliz in den Straßen von Kabul, nachdem sie am Vorabend den Präsidentenpalast eingenommen und dort ihren Sieg über die afghanische Regierung gefeiert hatten. Am Flughafen der Hauptstadt spielten sich derweil chaotische Szenen ab: Tausende Menschen versuchten verzweifelt, einen Platz für einen Evakuierungsflug zu erwischen.

Die Taliban hatten am Sonntag nach einem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan die Hauptstadt erreicht. Die afghanische Regierung erklärte sich zur Machtübergabe bereit, Präsident Aschraf Ghani floh ins Ausland. In einer Facebook-Botschaft gestand er die Niederlage gegen die Taliban ein.

Am Flughafen von Kabul drängten sich am Montag tausende Zivilisten, die aus Angst vor einer erneuten Schreckensherrschaft der Taliban das Land verlassen wollten. Die US-Regierung entsandte 6.000 Soldaten zur Sicherung des Flughafens. US-Soldaten feuerten Schüsse in die Luft, um die Menge zu kontrollieren. Zeugen berichteten von mindestens einem Mädchen, das in dem Chaos am Flughafen ums Leben kam.

Die Flughafenverwaltung stellte derweil den kommerziellen Flugverkehr ein und begründete dies mit möglichen „Plünderungen und Verwüstungen“. Internationale Fluggesellschaften, darunter auch die Lufthansa, setzten ihre Überflüge über Afghanistan aus.

In Kabul war es am Montag vergleichsweise ruhig: Die Straßen waren weniger belebt als am Vortag, während die Islamisten Kontrollposten in der Stadt errichteten. Ein Taliban-Sprecher teilte mit, dass „niemand ohne Erlaubnis das Haus eines anderen betreten darf“. Tausende Kämpfer sollen demnach auf dem Weg nach Kabul sein, um dort für „Sicherheit“ zu sorgen.

Ein Taliban-Kämpfer bedient ein Maschinengewehr auf einem Fahrzeug, während er am 16. August 2021 auf einer Straße in Kabul patrouilliert
Ein Taliban-Kämpfer bedient ein Maschinengewehr auf einem Fahrzeug, während er am 16. August 2021 auf einer Straße in Kabul patrouilliert Foto: AFP

Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Gründer der Taliban, rief die Milizionäre in einem Online-Video zur Disziplin auf: „Jetzt ist es an der Zeit, zu beweisen, dass wir unserer Nation dienen und für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen können.“

Der UN-Sicherheitsrat in New York wollte am Montag zusammenkommen, um über die Lage in dem krisengeschüttelten Land zu beraten. Die Taliban hoffen auf die internationale Anerkennung als Führung Afghanistans.

China erklärte sich am Montag als erstes Land zu „freundlichen Beziehungen“ mit den neuen Machthabern bereit. „China respektiert das Recht des afghanischen Volkes, unabhängig sein eigenes Schicksal zu entscheiden“, erklärte eine Außenamtssprecherin. Die russische Regierung will eine Anerkennung der Taliban nach eigenen Angaben von deren „Verhalten“ abhängig machen.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace erklärte hingegen, dies sei „nicht der richtige Zeitpunkt“, um das Regime anzuerkennen. Die Machtübernahme der Islamisten bezeichnete er als „Versagen der internationalen Gemeinschaft“.

Angela Merkel (Archivbild)
Angela Merkel (Archivbild) Foto: AFP

Merkel: Evakuierungen nur mit den USA möglich

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im CDU-Präsidium nach Angaben von Teilnehmern von „bitteren Stunden“ in Afghanistan gesprochen. Die Entscheidung zum US-Rückzug aus dem Land habe eine Kettenreaktion ausgelöst, sagte die Kanzlerin nach Angaben mehrerer Teilnehmer am Montag im CDU-Bundesvorstand. Die Machtübernahme der Taliban sei gerade für die bitter, die an Demokratie und Freiheit geglaubt hätten, sowie für Frauen. Man müsse nun mit einer Flüchtlingsbewegung rechnen und Hilfe in den Nachbarländern organisieren.

Merkel umriss im CDU-Bundesvorstand nach Angaben von Teilnehmern auch die Dimension der Evakuierungsmission der Bundeswehr. Sie sprach demnach von rund 10.000 Personen, die Deutschland aus Afghanistan evakuieren wolle. Die Bundesregierung habe vor Monaten bereits 2.500 Ortskräfte identifiziert, bei 600 wisse man derzeit nicht, ob sie bereits in Drittstaaten seien, habe Merkel gesagt. Weitere 2.000 Menschen wie Menschenrechtler und Anwälte sollten auch ausreisen. Insgesamt handele es sich inklusive der Familien um rund 10.000 Menschen. „Wir evakuieren nun in Zusammenarbeit mit den USA die Menschen. Ohne die Hilfe der Amerikaner könnten wir so einen Einsatz nicht machen“, wurde die Kanzlerin zitiert. (Reuters)

 Foto: AFP/Pool/Eric Gaillard

Macron will Ansprache halten

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach dem Einmarsch der radikalislamischen Taliban in Kabul eine Krisensitzung des nationalen Verteidigungsrats einberufen. Macron beriet am Montag unter anderem mit dem französischen Außen- und Verteidigungsministerium sowie Militärvertretern in einer Videokonferenz über die Lage in Afghanistan. Für 20 Uhr kündigte der Präsident eine Fernsehansprache an.

Die französische Verteidigungsministerin Florence Parly sagte, es sollten „mehrere Dutzend Franzosen“ sowie afghanische Ortskräfte von der Luftwaffe in die Vereinigten Arabischen Emirate ausgeflogen werden. Evakuiert werden soll vor allem das noch verbliebene Botschaftspersonal in Kabul.

Von der Luftbrücke mit zwei französischen Militärmaschinen nach Abu Dhabi sollen nach Parlys Worten aber auch afghanische Ortskräfte profitieren sowie Menschenrechtsaktivisten, Journalisten oder Künstler, „die für die Werte eingetreten sind, die wir in der ganzen Welt verteidigen“. Nach offiziellen Angaben hat Frankreich seit Mai 625 afghanische Ortskräfte und ihre Familien aufgenommen.

Präsident Macron hält sich derzeit an seinem Sommersitz im Fort de Brégançon am Mittelmeer auf. Der Elysée-Palast betonte, der Präsident stimme sich von dort aus telefonisch mit den internationalen Partnern über die Lage in Afghanistan ab. In Paris herrscht große Sorge, dass die Machtübernahme der Taliban eine neue Flüchtlingskrise auslösen könnte. (AFP)

EU-Außenminister besprechen sich am Dienstag

Die Außenminister der Europäischen Union beraten am Dienstag über die Lage in Afghanistan. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell teilte am Montag mit, die EU-Staaten versuchten, ihre Maßnahmen zur Evakuierung von Personal aus Afghanistan zu beschleunigen.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan und nach „intensiven Beratungen mit unseren Partnern“ habe er sich entschieden, für Dienstagnachmittag eine Video-Konferenz anzusetzen, erklärte Borrell in einer Twitter-Kurznachricht.

Nach Angaben von Diplomaten forderten mehrere Vertreter der EU-Kommission von den Regierungen der Mitgliedstaaten, dass sie an die etwa 500 oder 600 Menschen, die in Afghanistan für die EU gearbeitet haben, Visa ausgeben müssten.

Angesichts des Vormarschs der Taliban war die deutsche Botschaft in Kabul am Sonntag geschlossen und das gesamte Personal an den militärischen Teil des Kabuler Flughafens verlegt worden. Die deutsche Luftwaffe entsandte drei Maschinen Richtung Kabul, wie ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums am Montag sagte.

Die Luftwaffen-Flugzeuge sollen eine Luftbrücke zwischen Kabul und der Hauptstadt des Nachbarlands Usbekistan, Taschkent, errichten. In Taschkent sollen dann zivile Chartermaschinen die Ausgeflogenen abholen und nach Deutschland bringen.

Baerbock: „Viel zu spät reagiert“

Annalena Baerbock
Annalena Baerbock Foto: AFP

Angesichts der chaotischen und sehr späten Evakuierungsaktionen erst inmitten der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan spricht die Opposition von einem Totalversagen der Bundesregierung. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warf der Regierung am Montag vor, „vor der Realität die Augen verschlossen“ zu haben. Von einem „historischen Fiasko“ sprach Linken-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow.

„Jetzt, in diesem Moment, müssen die Leute ausgeflogen werden, mit allen Möglichkeiten, die wir haben“, verlangte Baerbock. Um ihr Leben bangen müssten neben den Ortskräften der Bundeswehr in Afghanistan auch Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Medienvertreter oder Frauenrechtlerinnen. Baerbock bekräftigte ihre Forderung nach „Kontingenten im fünfstelligen Bereich“ für die Aufnahme von Schutzsuchenden.

Viel zu lange sei die Regierung davon ausgegangen, „dass schon alles gut wird“, kritisierte auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour. Statt Evakuierungen vorzubereiten, habe sich die Regierung noch bis vor einer Woche darauf konzentriert, „die Abschiebungen nach Afghanistan fortzusetzen“. Dabei hätten viele eine schnelle Machtübernahme der Taliban vorausgesagt. (AFP)