Es ist eine Knochenarbeit, die Marina Litwinowitsch an diesem heißen Sommertag leistet. In einem Park im nordwestlichen Moskauer Wohnbezirk Sokol wirbt sie um Wählerstimmen für die Dumawahl am 19. September. Die 46-Jährige kämpft als Direktkandidatin um einen Abgeordnetensitz. Um in die Duma zu kommen, benötigt sie viele Wählerstimmen aus ihrem 198. Wahlbezirk. Doch für viele Moskauer ist die Parlamentswahl noch weit weg.
„Guten Tag! Darf ich mich vorstellen?“, beginnt Litwinowitsch – blondes Haar, graue Hose, eisblaues Top – ihr Gespräch mit einer Passantin. Doch die ältere Frau winkt ab. „Nein danke.“ Das von Litwinowitsch angebotene Flugblatt mit ihrem Wahlprogramm will sie nicht annehmen. „Ist nicht mein Ding. Ich glaube nicht mehr an Wahlen.“ Als Litwinowitsch entgegnet, sie sei Oppositionskandidatin, antwortet die Frau: „Das hat Nawalny auch gesagt.“ – „Im Gegensatz zu ihm sitze ich noch nicht hinter Gittern“, pariert Litwinowitsch schlagfertig.
Wenig Vertrauen
Es gibt auch Spaziergänger, die das Faltblatt interessiert entgegennehmen. Es ist Litwinowitschs erste Wahlkampf-Aktion. Viele weitere sollen folgen. Die liberale Neo-Politikerin wirbt für Rechtsstaatlichkeit, Antikorruptionsmaßnahmen und eine strengere Kontrolle der Staatsdiener – kurz gesagt: für einen Staat im Dienste der Bürger. Litwinowitsch übt Kritik an der politischen Elite, die Russlands Institutionen in Besitz genommen hat. Auch die Tätigkeit der Duma kritisiert sie: „Derzeit erlässt sie Gesetze gegen die Bürger.“ Damit spielt Litwinowitsch etwa auf das Gesetz über ausländische Agenten an, das russische Organisationen, Medien und Einzelpersonen unter Druck setzt.

Insgesamt ist das Parlament in Russland kein besonders angesehenes Organ. In Vertrauensumfragen liegt es mit knapp über 40 Prozent hinter dem Präsidenten, der Regierung und den Gouverneuren. Tatsächlich wurde die Duma mit der fortschreitenden Regierungszeit Wladimir Putins politisch gezähmt und setzt heutzutage größtenteils vom Kreml angestoßene Gesetzesvorschläge um – was ihr den Ruf einbrachte, Gesetze einfach „abzustempeln“. Die Kreml-Partei „Einiges Russland“ verfügt über eine satte Drei-Viertel-Mehrheit. Als Kontrollorgan spielt das Unterhaus keine Rolle mehr.
Der Druck steigt
Litwinowitsch will das ändern. Sie will sich von der altgedienten, aber bei landesweiten Wahlen zuletzt erfolglosen Oppositionspartei Jabloko als Direktkandidatin in ihrem Wahlkreis nominieren lassen. Ein Parteitag Anfang Juli entscheidet über ihre Kandidatur. Sie selbst ist parteilos. In liberalen Kreisen ist die dreifache Mutter keine Unbekannte. Sie war eineinhalb Jahre als Menschenrechtsexpertin in der Moskauer Beobachterkommission tätig, einem öffentlichen Kontrollorgan. Nach der Verhaftungswelle bei den Nawalny-Demos setzte sie sich unermüdlich für die Haftbedingungen der Festgenommenen ein. Das kostete sie schließlich ihren Job bei der Kommission. Davor war sie als Beraterin in Oppositionskreisen tätig. Zuletzt unterstützte sie die unabhängige Bezirksabgeordnete Julia Galjamina. Da Galjamina eine bedingte Haftstrafe aufgebrummt bekam, kann sie selbst nicht zur Dumawahl antreten. Litwinowitsch sprang für Galjamina ein. „Ich wollte schon lang selbst in die Politik“, sagt sie. „Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.“
Ich habe das Recht, mich mit Politik zu beschäftigen. Ich kämpfe um mein Land.
Doch Litwinowitschs Entscheidung ist mit Risiken verbunden. Denn die jüngste Repressionswelle in Russland steht auch im Zusammenhang mit dem Urnengang im Herbst. Die Staatsmacht wünscht sich eine „ruhige“ Abstimmung mit möglichst wenig Konkurrenz. Zugelassen werden wohl nur die bereits in der Duma befindlichen Parteien – „Einiges Russland“ sowie die sogenannte System-Opposition – sowie von der Staatsspitze abgesegnete neue Projekte. Dass die Wahl drei Tage dauern wird, öffnet zusätzlich Möglichkeiten für eine Beeinflussung des Ergebnisses.
Die Anhänger Alexej Nawalnys wurden bereits per Gesetz von dem Urnengang ausgeschlossen. Nawalnys Aktion „Clevere Wahl“ – eine Art strategische Wahlempfehlung für Nicht-Kreml-Kandidaten – könnte von den Behörden ebenfalls torpediert werden. Auch das Antreten anderer starker Oppositionsvertreter wird aktiv unterbunden. Das staatliche Ermittlungskomitee hat bereits mehrere Kandidaten im Visier. Jüngst kam sogar der bekannte liberale Politiker und Ex-Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow unter Druck. Gudkow wurde kurzzeitig verhaftet. Er kam einem Prozess durch die Ausreise in die Ukraine zuvor. Ihm wurde verdeutlicht, dass das Vorgehen mit seiner geplanten Wahlkampagne in Verbindung steht.
Litwinowitsch weiß, dass eine Kandidatur für sie persönlich Folgen haben kann. Es kann sein, dass man sie nicht zur Wahl zulässt. Es kann sein, dass sie verhaftet wird. „Ich bin zu allem bereit“, sagt die 46-Jährige entschlossen. „Ich habe das Recht, mich mit Politik zu beschäftigen. Ich kämpfe um mein Land.“
De Maart
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