Es ist ein Wendepunkt in einer alten, aber längst nicht verheilten Wunde. Ab Juli darf das Wrack der „Estonia“ untersucht werden. Die schwedische Havarie-Kommission wird zusammen mit finnischen und estnischen Behörden Tauchgänge zu dem Schiff leiten, das auf dem 80 Meter tiefen Grund der Ostsee liegt. Am Ende soll ein digitales Modell der „Estonia“ erstellt werden. Und vor allem sollen Fragen eine Antwort bekommen.
Ausschlaggebend für den Kurswechsel bei den „Estonia“-Untersuchungen war der Discovery-Dokumentarfilm „Estonia – der Fund, der alles verändert“, der zum 26. Jahrestag des Unglücks am 28. September vergangenen Jahres ausgestrahlt wurde. Unterwasseraufnahmen wiesen auf ein vier Meter hohes und über ein Meter breites Loch und ein weiteres, kleineres Loch hin, die im Untersuchungsbericht von 1997 nicht erwähnt wurden. „Wie entstanden sie, wann entstanden sie? Entstanden sie nach oder vor dem Sinkvorgang?“, so Jonas Bäckstrand. Dies seien, so der Chef der schwedischen Havarie-Kommission, die wichtigsten Fragen, die der Tauchgang klären soll.
Quälende Fragen
Es sind diese Fragen, die auch die Überlebenden und Angehörigen von Opfern quälen. Der Untergang der „Estonia“ gilt als die größte Katastrophe der zivilen Schifffahrt in Europa nach 1945 – die Fähre von Tallinn nach Stockholm sank in einer stürmischen Nacht am 28. September 1994 innerhalb von einer halben Stunde. Nur 137 Personen überlebten in dem kalten Wasser, 852 kamen ums Leben, vor allem Schweden. Der Untersuchungsbericht von 1997, an dem auch Estland und Finnland beteiligt waren, nannte einen Schaden der Bugklappe als Ursache für das Sinken.
Doch die intransparente Politik der damaligen sozialdemokratischen Regierungen in Schweden förderte viele Spekulationen. So kam es immer wieder zu Mutmaßungen, Bomben der Mafia oder des KGB seien verantwortlich. Nachdem 2004 Vertreter des schwedischen Zolls und des Militärs eingeräumt hatten, dass mittels der „Estonia“ Militärtechnologie aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland nach Schweden geschmuggelt wurde, wurde es wieder laut um die „Estonia“.
Dass Aufklärung nicht erwünscht schien, demonstrierte auch das Gesetz der „Totenruhe“, nach dem schwedischen, estnischen und finnischen Staatsbürgern sogar die Fahrt über dem Wrack untersagt war. Den schwedischen Dokumentarfilmern drohten aufgrund ihrer Tauchfahrt Freiheitsstrafen von zwei Jahren. Vor Gericht wurden Henrik Evertsson und Linus Andersson im vergangenen Februar jedoch freigesprochen, da sie mit einem deutschen Schiff unterwegs waren und Deutschland dieses Abkommen nicht ratifiziert hatte.
Der Druck der Öffentlichkeit und auch der Opposition wurde nun offensichtlich zu groß – das schwedische Parlament schaffte das Gesetz Ende Mai wieder ab. Offiziell darf das Wrack ab dem 1. Juli untersucht werden. Bei den geplanten Tauchgängen sollen bis zu 25.000 Aufnahmen gemacht werden, um das Schiffswrack digital nachzubilden.
Wir werden die Wahrheit über die MS Estonia erfahren – entweder durch die Behörden oder durch private Initiativen
Auch die Bugklappe, das einzige Element des Schiffes, das geborgen wurde, soll erneut untersucht werden. Vor allem dahingehend, ob sie etwa die Löcher in der Schiffswand verursacht habe. Die Theorie, die in dem Dokumentarfilm diskutiert wurde, ist der Rammstoß eines U-Bootes.
Gleichzeitig läuft die Befragung der Überlebenden durch Mitglieder der „Havarie-Kommission“. Damit wird einer Forderung der Organisation „Stiftung der Estonia-Opfer und Angehörigen“ (SEA) nachgegangen, die seit 26 Jahren vergeblich gestellt worden war. Für die Hinterbliebenen gab es letzte Woche auch einen Rückschlag. Der Verfassungsausschuss des schwedischen Reichstags erklärte, die Staatsanwaltschaft werde keine Ermittlung gegen Politiker einleiten, die nach der Katastrophe in der Verantwortung waren.
Befragt werden sollten – wäre es nach dem Willen der Betroffenen gegangen – der damalige Ministerpräsident Göran Person, der eine 2004 angekündigte Untersuchung nicht umgesetzt hat, die klären sollte, ob das schwedische Militär Frachtgut aus Estland bestellt hatte und fremde Geheimdienste involviert waren. Auch sollten Personen um die schwedische Militärbehörde „Büro für spezielle Materialbeschaffungen“ interviewt werden.
Lennart Berglund, einer der Vorsitzenden von SEA, meint dennoch auf Tageblatt-Anfrage: „Wir werden die Wahrheit über die MS Estonia erfahren, da sind wir ganz sicher. Entweder durch die Behörden oder durch private Initiativen. Wer dann für ein eventuelles Verbrechen belangt werden kann, hängt davon ab, was zur Katastrophe geführt hat.“
 
		    		 De Maart
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