„Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank“, raunzte mich ein Schweizer Kollege am Telefon an, als er erfuhr, dass ich trotz Corona-Pandemie eine Akkreditierung für meine gefühlt hundertste Tour de France angefragt hatte. „Pass ja nur auf die Franzosen auf, die drücken dir nicht nur die Hand, sondern küssen dich bei ihrer überfallartigen Begrüßung auch noch auf die Wangen. ’Mon ami’ hier, ’mon ami’ da, und schon bist du angesteckt. Lass ja nur die Finger vom ’Grand départ’, bleib zu Hause, die Tour wird auch gefahren, wenn wir beide nicht leibhaftig dabei sind.“
Dilemma
Der werte Herr Kollege, während langer Jahre im Monat Juli ein treuer Wegbegleiter durch Frankreich, genießt im schönen Kanton Wallis den wohlverdienten Ruhestand, er kümmert sich um Eringerkühe, diese alte traditionelle Kuhrasse mit kampflustigem Temperament, spielt ab und zu Golf, übt auch mal das Tontaubenschießen, aber sonst tut er nichts, gar nichts. Artikel schreiben, ständig dem „Scoop“ auf der Spur sein, das ist Schnee von gestern. „Es gibt eine Zeit für alles“, sagte der Kollege am Telefon, „du musst auch mal was anderes tun als den Rücken zu krümmen und auf deinen Computer zu starren, nimm doch einen Pinsel in die Hand und streich deine Gartenlaube.“
Weil der Herr da oben mich handwerklich gesehen mit zwei linken Händen ausgestattet hat und ich über keinen Garten verfüge, ergo keine entsprechende Laube mein eigen nennen darf, schien es mir trotz aller gutgemeinten Ratschläge des Kollegen doch ratsamer, die Tour de France wie gewohnt als Journalist zu begleiten und den Tageblatt-Lesern aus der „Grande boucle“ zu berichten. Eigentlich, so dachte ich noch am letzten Dienstag, einen Tag vor der Öffnung des Pressezentrums, durfte ich nicht fehlen, weil der „Grand départ“ 2020 vor zwei Jahren in eine für mich mythische Stadt vergeben wurde. Ich war halt mal ein waschechter, sportbegeisterter Niederkorner Bub, der das Glück hatte, in den Nachkriegsjahren Wasser vom „Pësselbuer“ zu trinken.
Mächtig stolz
Damals waren sie in Niederkorn mächtig stolz darauf, dass ihre Ortschaft Anfang der 1950er-Jahre im französischen Fußball-Milieu plötzlich in aller Munde war. Für die „Berühmtheit“ sorgte ein junger Mann, der knapp 21 war, als er an Silvester 1951 den Schnellzug nach Nice bestieg, um sein Glück als Fußballer zu suchen. Vic Nurenberg, am 22. November 1930 als jüngstes von fünf Kindern in Niederkorn geboren, wollte sich einen Jugendtraum erfüllen, doch an einen Erfolg glaubten damals die wenigsten.
Auf Hadir, der damaligen Differdinger „Schméilz“, hatte Vic seine berufliche Lehre als „ajusteur-mécanicien“ abgeschlossen. In sportlicher Hinsicht standen ein Finalsieg mit dem Progrès in der „Coupe Prince Jean“ (1949) und eine Berufung in den Nationalkader (1950) auf der Habenseite. Recht früh war „Selektioneur“ Adolf Patek auf den schmächtigen Jungen aufmerksam geworden, recht früh auch klopften die Verantwortlichen des Profivereins OGC Nice bei den Nurenbergs an. Sie waren vom damaligen Direktor des Luxemburger „Office du tourisme“, Ginsbach, nach Niederkorn gelotst worden. Ginsbach verbrachte seine Ferien des Öfteren in Nice und war ein Freund des Präsidenten des „Olympique Gymnaste Club“.
An der Côte d’Azur wurde Vic von Cafetier Léon Schmit, einem Landsmann, „in Gewahr genommen“. Zuerst durfte er sich mal ordentlich ausschlafen, ehe Trainer Andoire ihn kurzerhand in ein rot-schwarz gestreiftes Trikot steckte und zum traditionellen Neujahrs-Benefizspiel zwischen Nice und Cannes aufs Feld schickte. Nice gewann 7:1, Nurenberg steuerte drei Tore bei.
Denkwürdig
Weil Vic laut den damals geltenden Bestimmungen nur eine Amateurlizenz unterschreiben durfte, spielte er fortan abwechselnd bei den Amateuren und den Berufsfußballern des OGC Nice. Schon in seinem ersten offiziellen Profispiel gegen Rennes schoss der Niederkorner Bursche zwei herrliche Tore.
Nurenberg und Nice schwammen auf der Erfolgswelle. Die Mannschaft wurde französischer Meister und erreichte das Endspiel der Coupe de France gegen Bordeaux. Vic, erst knappe sechs Monate in Frankreich, realisierte kaum, was ihm geschah. Wie benommen stand der 21-Jährige auf dem Rasen des Stade de Colombes, hörte die Marseillaise und schüttelte aufgeregt die Hand von Präsident Vincent Auriol.
Als der Schiedsrichter den Ball freigegeben hatte, „explodierte“ der junge Mann förmlich. Schon nach wenigen Minuten traf Nurenberg in diesem denkwürdigen Finale zum ersten Mal. Am Schluss siegte Nice 5:3.
Nach den Olympischen Spielen von Helsinki, an denen Vic mit der Nationalmannschaft teilnahm, erhielt er in Nice einen Profivertrag. Er holte sich zwei weitere Meistertitel und einen Coupe-Sieg, bei dem er 1954 gegen Marseille für eines der spektakulärsten Kopfballtore der französischen Fußballgeschichte sorgte.
Vier Tore
Nurenbergs Glanzstunde aber schlug 1960 im Viertelfinal-Hinspiel des Europacups der Meister, als er seine Mannschaft gegen das „große“ Real zu einem 3:2-Erfolg schoss. Zur Pause lagen die Madrilenen in Nice 0:2 vorn, danach kippte Kapitän Nurenberg das Spiel ganz alleine. Er erzielte alle drei Tore, das letzte per Elfmeter. Ein „Hattrick“ für die Geschichte.
Bis heute bleibt Vic, der uns am 22. April 2010 verließ, mit 89 Treffern in 252 Meisterschaftsspielen der erfolgreichste Torjäger des OGC Nice. In einer offiziellen Klub-Liste der wertvollsten Spieler aller Zeiten wird er als Nummer drei geführt. In dieser Aufstellung erscheint Roby Langers, der zweite Luxemburger, der für Furore an der Côte d’Azur sorgte, auf Rang 26. Langers (geb. am 1. August 1960), spielte von 1989 bis 1991 in Nice und erzielte rund 30 Tore. Unvergessen bleiben seine vier Treffer beim 6:0-Sieg des OGCN im Relegationsspiel um Auf- und Abstieg gegen den Racing Club Strasbourg (29. Mai 1990). Nice hatte das Hinspiel im Stade de la Meinau 1:3 verloren.
*Übrigens: Der Verstand war diesmal stärker als das Gefühl. Ich bin nicht in Nice. Ich habe die Warnungen meines Schweizer Kollegen ernst genommen, das lange zuvor reservierte Hotelzimmer abbestellt und auf die Akkreditierung verzichtet. „Quelle triste nouvelle Petz, à très vite j’espère“, schrieb mir der Pressechef der Tour, nachdem ich abgesagt hatte. Der einzigartige Geruch der „Salle de presse“ und das Fachsimpeln mit altgedienten Kollegen werden mir fehlen. Die speziellen Informationsquellen aber bleiben erhalten. Die Tour-Kolumnen erscheinen weiter. Ein gutes halbes Dutzend Mal werden Sie die Rubrik in den nächsten drei Wochen im Tageblatt finden.
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