„Das Regime hat das Volk gekidnappt“

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Patricia Gutierrez und Antonio Ledezma bezeichnen sich als Sozialdemokraten - und zweifeln daran, dass es einen gewaltfreien Übergang in Venezuela geben kann.

Die diesjährige Verleihung des Sacharow-Preises für Meinungsfreiheit des Europaparlaments lief nicht ohne Zwischentöne ab. Auch das zeigt, wie verworren und ideologisch verbrämt die Lage in und die Sicht auf Venezuela sind.

Von Armand Back

Wir haben uns mit zwei der symbolischen Preisträger unterhalten: Patricia Gutierrez und Antonio Ledezma bezeichnen sich beide als Sozialdemokraten. Und beide zweifeln daran, dass es einen gewaltfreien Übergang in Venezuela geben kann.

Tageblatt: Wissen die Venezolaner Bescheid über die Verleihung des Sacharow-Preises durch das Europaparlament?
Antonio Ledezma: Ja, der Preis ist bekannt. Auch sonst auf dem südamerikanischen Kontinent, das darf man nicht vergessen. Für uns ist das eine Vitrine, um die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf uns zu lenken.

Patricia Gutierrez: Vor allem in den sozialen Netzwerken wurde am Mittwoch über kaum etwas anderes gesprochen. Für uns ist der Preis eine Geste der Solidarität der europäischen Demokraten. Es ist auch ein Ansporn, unseren Kampf weiterzuführen, auch den Kampf auf der Straße, der bereits mehr als hundert junge Menschen das Leben gekostet hat. Damit kann der Preis auch Trost sein für die Angehörigen der Opfer der Staatsgewalt. Und den politisch Inhaftierten, wie meinem Mann, gibt er Hoffnung.


Antonio Ledezma, geboren 1955, ist ein venezolanischer Anwalt, Politiker und ehemaliger politischer Gefangener. Ledezma lebt mittlerweile in Spanien. In den Jahren 2008 bis 2015 war Ledezma Bürgermeister von Caracas. 2015 wurde Ledezma verhaftet und des Amtes enthoben. Ledezma ist Gründer der sozialdemokratischen Partei Alianza Bravo Pueblo (Bündnis des mutigen Volkes), eine Anspielung auf die Nationalhymne des Landes Gloria al Bravo Pueblo.

 


Sie sind beide Sozialdemokraten. Was macht das mit Ihnen, einen extrem linken Gegner zu haben?

A.L.: Diktaturen gibt es von links wie von rechts. Die, die in Venezuela vorgeben, soziale Errungenschaften zu verteidigen, sind dieselben, die mehr als 85 Prozent der Bevölkerung in extreme Armut gestürzt haben – und das in einem Land, das sehr, sehr reich an Bodenschätzen ist. Die Menschen hungern, haben keinen Zugang zu Medikamenten. Gleichzeitig ist das Land völlig verschuldet. Mit einer Hyperinflation von 2.000 Prozent, einer Währung, die vollkommen abgewertet ist, einer Wirtschaft in einem Zustand des totalen Zusammenbruchs.

Wie kann eine Linke, die sich sozial nennt, die Meinungsfreiheit unterdrücken? Wie kann sie politische Gefangene haben? Die Korruption ist allgegenwärtig. Mehr als 600 Milliarden Dollar sind aus den Staatsreserven verschwunden – eine völlig surrealistische Summe! Nicht zu vergessen die Drogen. Mehr als 60 Prozent des Kokains auf dem europäischen Markt haben ihren Ursprung in Venezuela. Das Schicksal Venezuelas betrifft in dieser Hinsicht Europa sogar direkt. Das geht uns alle an!


Patricia Gutierrez, 1983 geboren, ist eine venezolanische Aktivistin und Politikerin und in der Sammelbewegung „Mesa de la Unidad Democratica“ (MUD) aktiv. Sie bezeichnet sich als Sozialdemokratin. Nachdem ihr Mann Daniel Ceballos als Bürgermeister der Stadt San Cristobal 2014 bei Protesten verhaftet wurde, kandidierte Patricia Gutierrez selber für den Posten und wurde gewählt.


P.G.: Was wir haben, ist ein kommunistischer Staat, der sich hinter einem Gewand des falschen Sozialismus versteckt. Hier wird das Elend verwaltet, das ist kein Sozialismus. Das ist ein Kommunismus mit engen Verbindungen zu den Drogenkartellen. Wir leben in einem Narco-Staat, dessen höchste Vertreter sich auf unverschämte Weise selbst bereichert haben. Unsere Reichtümer befinden sich heute in Steuerparadiesen. Früher exportierten wir Fleisch, Kakao, Lebensmittel. Heute exportieren wir Drogen, den Tod, Terror.

Im Europaparlament gab es auch Kritik. Besonders die Fraktion der Linken war nicht damit einverstanden, dass Sie den Preis bekommen. Wie stehen Sie dazu?A.L.: Aber das ist sie doch, die Demokratie! Eine sehr breite Mehrheit der europäischen Abgeordneten hat uns unterstützt. Wenn Sie die spanischen Podemos-Vertreter meinen, muss ich Ihnen eines sagen: Mich hat das nicht überrascht, Podemos hat nie anerkannt, dass es in Venezuela politische Gefangene gibt. Für sie sind wir keine politisch Inhaftierten, sondern inhaftierte Politiker – und das ist nicht dasselbe.

P.G.: Was ich mir von den linken Europaabgeordneten wünsche, ist, dass sie ihre Ideologie für einmal beiseite lassen und aufhören, dieses Regime zu unterstützen, das brutal ist, totalitär und vom Drogenhandel finanziert wird. Einmal abgesehen von jedweder Ideologie: Was wir in Venezuela haben, ist eine humanitäre Krise. Und diese Diktatur, von der ich erzähle, die ist nicht fünf Jahre alt, nein, die besteht seit bald 20 Jahren. Auch deshalb bitte ich Europas Linke, sich doch etwas besser zu informieren.

Sie sprechen von einer Diktatur, die vor 20 Jahren begann. Hugo Chavez wurde aber demokratisch ins Amt gewählt …
P.G.: Da haben Sie recht. Aber ab da hat Chavez, Schritt für Schritt, ein kommunistisches Regime installiert. Das hat nicht mit Maduro begonnen. Es ging los mit der Enteignung von Privatunternehmen. Dann wurden die Kommunikationsunternehmen verstaatlicht. Radiostationen, Fernsehsender mussten schließen. Aus der Armee, die eigentlich dafür da ist, die Souveränität Venezuelas zu garantieren, ist eine politische Armee geworden. Auch die Verfolgung von Dissidenten begann unter Chavez. Mit dem Geld aus der Ölwirtschaft – damals ließ der hohe Ölpreis das ja noch zu – machte Chavez Geschenke an die Bevölkerung, statt in Infrastruktur, in die Zukunft zu investieren. Alles unter dem Gewand einer vorgeblich sozialistischen Politik. Das Ergebnis ist ein wirtschaftliches Debakel, das Maduro übrigens von Chavez geerbt hat. Es reicht nicht, demokratisch gewählt zu werden, um wirklich ein Demokrat zu sein. Dafür muss man das Recht achten, die Verfassung, das Volk.

A.L.: Es gibt zwei Arten von Legitimität. Die eine kommt über Wahlen, die andere über Taten. Ich selbst wurde 2008 zum Bürgermeister unserer Hauptstadt Caracas gewählt. Nur Tage später überfielen Vermummte das Rathaus, mir wurde das Budget um 95 Prozent gestrichen, man hat meine Zuständigkeiten einem anderen Gremium überstellt. 2013 kandidierte ich wieder und wurde erneut gewählt. Was machte Chavez? Er nahm den Kandidaten seiner Sozialistischen Einheitspartei, der gegen mich angetreten war, und ernannte ihn zum Minister für die Stadt Caracas … 2015 erhielt unser Oppositionsbündnis bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Stimmen. Mittlerweile ist es entmachtet.

Wo sehen Sie Venezuela in einem Jahr, in fünf Jahren?
A.L.: Das Regime will natürlich Zeit gewinnen. Zeit, um sich an der Macht zu verewigen. Wir aber haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir diese Plage loswerden wollen, brauchen wir eine neue Regierung, die sich an den Rechtsstaat hält und die persönlichen Freiheiten respektiert. Erst dann werden wir unsere wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen. Erst dann werden ausländische Investoren wieder Vertrauen fassen in dieses Land – und wir werden sie mit offenen Armen empfangen.

Wieso haben Sie die Regionalwahlen boykottiert?
A.L.: Weil es keine wirklichen Wahlen waren. Sie wurden von einem nicht legitimen Gremium einberufen. Das Regime hat sich diese Verfassungsgebende Versammlung auf den Leib geschneidert, nachdem es das Parlament entmachtet hatte. Völlig verfassungswidrig. Eine Million Stimmen wurden gefälscht, das hat das Unternehmen bestätigt, das das vermeintlich sichere Abstimmungssystem entwickelt hat. Auch die Nationale Wahlbehörde ist nicht autonom, sondern dem Regime unterworfen. Die Venezolaner sind nicht frei. Es gibt keine Pressefreiheit, keine Meinungsfreiheit. Wir leben in einem militärischen Belagerungszustand. Unsere Militärpolizei patrouilliert in den Städten. Dazu gibt es Milizen wie die SS oder die Schwarzhemden, die die Straßen beherrschen.

Wenn Sie sich nun Wahlen verweigern und nicht nach Mitteln der Gewalt greifen wollen, wie wollen Sie dann zurück an die Macht? Und das Regime wird ja noch von Millionen Venezolanern gestützt. Wie wollen Sie diese beiden Venezuelas wieder miteinander versöhnen?
A.L.: Was wir wollen, ist Demokratie. Wir wollen keine Gewalt, aber unser Regime verweigert sich einer anderen Lösung. Wir wollen nicht bei Wahlen antreten, die keine richtigen sind. Aber wie sollen demokratische Wahlen stattfinden, wenn das Regime die Wahlkommission beherrscht, wenn es bestimmt, wer auf die Wahllisten kann, wenn es keine freien Medien gibt? Dafür brauchen wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

P.G.: Ein friedlicher Übergang ist unter diesem Regime nicht möglich. Jeder verfassungsrechtliche Weg zu einer Änderung ist verschlossen. Das Regime hat uns, hat sein Volk gekidnappt. Unsere letzte Hoffnung ist die Präsidentschaftswahl von kommendem Jahr. Aber ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft werden wir keine demokratischen Wahlen bekommen. Nur so können wir uns ein für alle Mal aus den Fängen dieser Diktatur befreien.