Wenn Andy Schleck heute um 15.59 Uhr zum letzten Einzelzeitfahren zwischen Bordeaux und Pauillac startet, zittert ganz Luxemburg mit. Die definitive Entscheidung bei der Tour de France 2010 steht an.
Drei Minuten nach Andy (16.02 Uhr) steigt Alberto Contador in den Sattel. Er hat gegenüber Schleck zwei Vorteile: den ersten, zählbaren, in Form von acht Sekunden, die er in der Gesamtwertung vor seinem großen Rivalen liegt; den zweiten, moralischen, in Form der Gewissheit, nie zuvor von seinem Kontrahenten bei einem „contre-la-montre“ bezwungen worden zu sein.
Zu Punkt 1. Alberto Contador kann auf den 52 km sieben Sekunden auf Andy Schleck verlieren, um doch noch Gesamtsieger der Tour zu werden. Das macht eine Sekunde pro Tranche von (ungefähr) 7,3 km aus. Eigentlich unvorstellbar, wenn man die Zeiten der beiden beim letzten Einzelzeitfahren der Tour 2009 in Annecy vergleicht. Damals gewann Alberto Contador in 48’30“ auf der 40,5 km langen Strecke, wobei er den ausgesprochenen Spezialisten Fabian Cancellara um drei Sekunden distanzierte.
Wie Charly Gaul?
Andy Schleck klassierte sich in Annecy auf dem 21. Platz, einen Rang hinter Kim Kirchen. Andy hatte 1’45“ Rückstand auf Contador, so dass er heute auf der um über 10 km längeren Strecke (genau 52 km) rund zwei Minuten auf den Spanier einbüßen müsste. Diese „Hochrechnung“ aber dürfte kaum stimmen, da man nicht vergleichen kann, was nicht vergleichbar ist.
Zum Ersten war die Strecke im letzten Jahr in Annecy relativ hügelig, während sie diesmal flach ist wie ein Brett. Wem das zugute kommt, kann niemand im Voraus sagen. Zum Zweiten ist Andy in einer weitaus besseren Verfassung als damals bei der Fahrt rund um den wunderschönen See. Er ist reifer und stärker geworden. Obwohl er den Prolog total vermasselte und sich als 122. mit 1’09“ Rückstand auf seinen Teamkollegen Fabian Cancellara klassierte, redet er sich Mut zu. Gegenüber Contador büßte Schleck in Rotterdam 42 Sekunden ein, was auf einer Distanz von nur 8,9 km enorm war. Man sollte jedoch auch diesen Prolog nicht als Vergleichsbasis zu Rate ziehen, da er heute, wenn die Entscheidung ansteht, gut ist für die Makulatur. Andy schaut nach vorn, er will vom Prolog nichts mehr wissen und seine Chance nutzen, solange sie theoretisch noch nutzbar ist.
Alberto Contador jedenfalls unterschätzt seinen Gegner nicht: „Er ist schließlich Luxemburger Meister in dieser Disziplin“, sagt er. „Dieses Einzelzeitfahren von Bordeaux nach Pauillac ist kein normaler Wettbewerb. Wir waren drei Wochen im Sattel, jeder ist müde, und derjenige, der am meisten Kraft hat, gewinnt. Der wirklich Stärkste, und nicht der im Normalfall beste Zeitfahrer, wird seinen Namen ins Palmarès der Tour schreiben.“ Sollte Andy dies sein, würde er es Charly Gaul gleichtun, der 1958 das „Maillot jaune“ am zweitletzten Tag beim Einzelzeitfahren in Dijon überstreifte.
„Der wichtigste Tag“
Das Duell zwischen Andy Schleck und Alberto Contador hat dem französischen Fernsehen bisher Rekord-Zuschauerzahlen beschert. Zwischen 13.50 Uhr und 17.50 Uhr sahen sich im Durchschnitt 4,5 Millionen die Tourmalet-Etappe an. Beim Finale am „Berg der Entscheidung“ (gegen 17.30 Uhr) waren 6,5 Millionen Fernsehzuschauer dabei. Das entsprach 60 Prozent aller eingeschalteten Apparate. Heute ist mit einer ähnlichen Zahl zu rechnen.
Für Andy wird es der „wichtigste Tag“ in seiner Karriere, wie er selbst sagte. Die Strecke nimmt er am Morgen in Augenschein, ehe der erste Fahrer in den Wettbewerb einsteigt. „Bei diesem Zeitfahren spielt sich alles im Kopf und nicht so sehr in den Beinen ab“, sagte Schleck gestern Abend. Die äußeren Bedingungen dürften für beide Konkurrenten ideal sein. Météo France kündigt trockenes Wetter, schwachen Nordostwind und Temperaturen um die 24 Grad an.
Während die Frage, wer am Sonntag das „Maillot jaune“ auf den Champs-Elysées tragen wird, schon heute beantwortet wird, muss man bis morgen Nachmittag warten, um zu wissen, wer das „Maillot vert“ erobern wird. Gestern gewann Mark Cavendish die Etappe von Saliès-de-Béarn nach Bordeaux und brachte sich dadurch wieder ins Gespräch.
„Ich will auf den Champs-Elysées gewinnen“, sagte der Brite nach seinem 14. Tour-Etappensieg. „Cav“ (zurzeit 197 Punkte) aber hat nur eine Chance, wenn Alessandro Petacchi (213 Punkte), der zurzeit in Grün ist, und Thor Hushovd (203 Punkte) nicht punkten.
Für den Sieg in Paris gibt es 35 Zähler, für den Zweiten 30, für den Dritten 26, für den Vierten 24, für den Fünften 22, für den Sechsten 20 und für die 19 Nächstplatzierten zwischen 19 Punkten und einem Punkt.
„Faites vos jeux!“P.L.
De Maart
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