Samstag25. Oktober 2025

Demaart De Maart

Westöstlicher Diwan

Westöstlicher Diwan

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Die Türkei sucht noch ihre Rolle in dem äußerst komplizierten außenpolitischen Gefüge seiner Region und darüber hinaus. Während langer Jahre war dem nicht so. Galt im Kalten Krieg die Türkei noch als strategisch unumgänglicher Vorposten des Westens gegenüber der Südflanke der Sowjetunion, so verfiel diese Rolle nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Die Türkei hatte damit während einiger Zeit kein Problem. Man fühlte sich noch immer als wichtiger NATO-Partner. Man dachte sogar, man wäre, ähnlich wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches, wenn schon nicht mehr eine bestimmende Kraft innerhalb des europäischen „concert des nations“, so aber zumindest ein Mitspieler.

Der Versuch, sich an Europa wirtschaftlich und institutionell zu binden, startete früh. 1949 wurde das Land Mitglied des Europarates. Keine zehn Jahre später stellte die Türkei ihre Kandidatur zur EWG – dem Vorgänger der EU. Relativ schnell wurde ein Assoziierungsabkommen (1963) abgeschlossen. Das mittelfristige Ziel war die Vollmitgliedschaft.

Natürlich war man sich auch in Istanbul und Ankara bewusst, dass der Weg nach Europa ein steiniger sei. Das anatolische Hinterland war wirtschaftlich rückständig, das Land politisch sehr instabil.

Während die ehemaligen Diktaturen Griechenland, Spanien und Portugal in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen wurden, sollten auch die zahlreichen Militärcoups im Namen der „Demokratie“ die türkische Kandidatur mehr als hemmen.

Nach dem Militärcoup von 1980 legte die Türkei langsam, aber sicher die wirtschaftlichen und politischen Weichen, um dieses Mal den Zug nicht zu verpassen. Das Streben in die Europäische Gemeinschaft und seine Institutionen wurde zur Triebfeder, mit welcher der türkische Staat die wirtschaftlichen und politischen Reformen bei der Bevölkerung durchsetzte.

Dann kam der Fall des Eisernen Vorhangs. Was geschah? Während Europa sich nach Osten ausdehnte – viele meinen, überstürzt – wurde die Türkei vergessen. Den Vergleich mit einigen Kandidaturen aus dem Osten Europas brauchte und braucht die Türkei allerdings nicht zu scheuen.

Wieso also eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU auf die lange Bank schieben? Auch hierfür gibt es nachvollziehbare Gründe. Aufgrund des Bevölkerungsanteils von über 70 Millionen ist die Türkei eine institutionell schwer zu schluckende „Kröte“. Die hohe Population gäbe ihr das Recht, eine politische Gewichtung zwischen Deutschland und Frankreich anzupeilen – Tendenz steigend, da die Bevölkerung weiter stark wächst.

Ein anderer Grund ist weniger triftig, wenn auch nicht vollständig zu verwerfen: Die überwältigende Mehrheit der Türken sind Muslime. Passen die überhaupt in das „christliche“ Europa? Leider wird in diesem Zusammenhang die öffentliche Diskussion in Europa allzu oft rein populistisch ausgeschlachtet.

Und während dies passiert, sucht die Türkei eben weiter nach ihrer Rolle und findet auf einmal, dass es zu Europa auch andere Alternativen gibt. So ergab eine rezente Umfrage in der englischsprachigen Ausgabe der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dass die Bevölkerung weit weniger europafreundlich eingestellt ist als noch vor Jahren. Das kann sich die Türkei wegen ihrer Wirtschaftskraft und ihres wachsenden politischen Einflusses in der Region auch zunehmend leisten.

Status quo ist keine Lösung

Die Bilder, die immer noch das kollektive Bewusstsein Europas hinsichtlich des Orients im Allgemeinen und der Türkei im Speziellen prägen, lassen sich schön auf die Sichtweisen der beiden Dichter Goethe und Kipling reduzieren.

Während der deutsche Olympier in seinem Westöstlichen Diwan dichtet „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“, meinte der britische Imperialist hingegen „Ost ist Ost, West ist West, sie werden nie zueinander kommen.“ Auf die momentanen Beziehungen zwischen der Türkei und Europa bezogen, passen beide Ansichten.

Die eine bezieht die andere paradoxerweise mit ein. Jedoch kann dieser Zustand nicht von Dauer sein. Wie auch immer die Beziehungen sich entwickeln sollen: die Türkei nicht näher an die EU zu binden, wäre eine verpasste Chance.

 

Sascha Bremer
[email protected]