Das Mikrofon am Kinn, auf dem Podium hin und herlaufend, von Zeit zu Zeit auf eine Grafik weisend, doziert Hans Werner Sinn gut eine Stunde lang und langweilt seine 230 Zuhörer im großen Hörsaal der Handelskammer nicht eine Minute lang. Seine Aussagen sind deutlich und kompromisslos, die Herleitungen und Beispiele regen auch zum Schmunzeln an.
„Die Krise“, sagt Sinn, „ist durchaus noch nicht vorüber. Sie wird uns noch einige Jahrzehnte begleiten.“ Sie ist auch zunächst seiner Ansicht nach keine Staatsschuldenkrise sondern eine Privatschuldenkrise, die von den öffentlichen Schulden abgelöst worden ist. Sinn wirft Grafiken an die Wand, die zeigen, dass es Staaten gibt, die die Niedrigzinszeit seit Beginn des Euro zur Verschuldung genutzt haben, weil es hier auf einmal billiges Geld gab. Erst die Krise der Jahre 2007/2008 machte aus dieser Privatschuldenkrise eine Krise der öffentlichen Hand.
Immer neue Schwierigkeiten
Das Problem, das sich daraus ergab, führt Europa in immer neue Schwierigkeiten. Deutschland hat sich in der Anfangszeit des Euro wettbewerbsfähig gemacht. In derselben Zeit häuften sich die Schulden in anderen Ländern an. Die Konsequenzen: Finnland, Deutschland, Luxemburg, die Niederlande sind heute die Gläubigerländer. In Europa aber baut sich eine Blase auf, die aus den Krisenländern kommt. Dort nämlich wird Geld gebraucht, das neuerdings von der Europäischen Zentralbank (EZB) gedruckt wird. Es gibt eine öffentlichen Geldtransport, der über die EZB läuft, erklärt Sinn. „Das Geld kommt von der Zentralbank. Die deutschen Banken leiten es nach Frankreich weiter. Von dort geht es in die Krisenländer und dort kaufen sie deutsche Autos wie etwa Volkswagen. Das Geld kommt also aus den Krisenländern nach Deutschland zurück.“ Schmunzeln im Saal. Sinn wiederholt das Beispiel später noch einmal mit BMW. Für den auf Pump aus den Nordländern finanzierten Konsum zahlen dann die Gläubigerländer. Die von Luxemburg garantierte Summe beziffert sinn mit 108 Milliarden Euro.
„Das Problem dabei“, sagt Sinn, „sind die Sicherheiten, die in ihrem Standard abgestuft wurden. Sie gingen von A- auf BBB- herunter. Die EZB erlaubte dabei sogar die Schaffung von ABS, strukturierte Papiere, die in den Jahren 2007 und 2008 die Finanzkrise auslösten.“ Sinn: „Portugal hat es fertig gebracht solche Papiere mit einer Laufzeit bis zum Jahre 9999 auszugeben.“ Möglich wurde das, so der Wissenschaftler, durch die Politik der Europäischen Zentralbank. Unter Präsident Trichet ersetzte sie in der Krise den Geldmarkt. Präsident Draghi setzt diesen Kurs fort, und lässt Geld drucken. Griechenland sei voll aus der Druckerpresse der EZB finanziert. Das Risiko läge dabei voll auf den Schultern der Steuerzahler. Ginge der Euro kaputt, so erklärt er, hätte die deutschen Bundesbank Forderungen in Höhe von 700 Milliarden Euro gegen ein System, dass es nicht mehr gäbe. Und Luxemburg eben 108 Milliarden. „Wenn nichts passiert, werden sich die Schulden durch eine höhere Inflation verflüchtigen.“ Die aber, sagt Sinn auch, macht ihm keine Schwierigkeiten.
Keine Lust auf ein Engagement
Das Problem, so Sinn, sei dabei, dass die Märkte gar keine Lust hätten, sich in den Krisenländern zu engagieren. Hier handele es sich um Investoren, die sorgsam mit ihrem Geld umgingen. Die Zentralbank aber und auch der neue Rettungsfonds ESM würden den Markt für die Krisenländer mit Geld überschwemmen. Insgesamt seien bisher 1,4 Billionen Euro für die Krisenländer zur Verfügung gestellt worden. Das System sei so, als ob alle deutschen Autohersteller ihre gesamte Produktion an eine Organisation abträten, der Staat den Preis festsetzte und dann die Autos zu diesem Preis verkauft würden. Es gibt Heiterkeit im Saal, als Sinn dazu eine Grafik aufruft, in der eine Flagge der DDR blinkt.
In der ersten Reihe des großen Saales sitzt der französische Ökonomie Professor Christian de Boissieu, in Frankreich eine ähnliche Kapazität wie Sinn in Deutschland. Boissieu wird mehrfach unruhig während des Vortrages seines deutschen Kollegen. Sinn stiehlt ihm mit seinem 60 Minuten Vortrag seine komplette Redezeit. Jeder nämlich hätte 30 Minuten gehabt zu Rede und Gegenrede. Jetzt ist die Zeit verbraucht. Alexandra Bru, Koordinatorin der Veranstaltung von pwc streicht in Absprache mit Moderator Dr. Serge Allegrezza schlicht die geplante Podiumsdiskussion und setzt Boissieu und Sinn stattdessen zum erwarteten Streitgespräch auf das Podium.
Dazu aber kommt es nicht. Boissieu ist nicht wirklich auf Konfrontation aus. Die Krise sei der Preis, den man jetzt zahlen müsse für das Anpassen auf das niedrige Zinsniveau der ersten Eurojahre und die unterschiedlichen Verhaltensweisen, erklärt er. Wenn man Griechenland, wie von Sinn vorgeschlagen, aus dem Euro entliesse, dann gäbe es dort eine Abwertung von 50 bis 60 Prozent und einen Anstieg der Inflation. Man dürfe aber mit der Eurozone nicht so umgehen, als ob man in den Euro eintreten, bei Bedarf austreten und irgendwann wieder eintreten könne. „Wir haben die Wahl zwischen zwei schlechten Lösungen“, sagt Boissieu. Auf die Anspielung von Sinn, dass Frankreich gerne das Geld der Deutschen hätte, geht Boissieu nicht ein. Genauso wenig wie auf die Feststellung von Sinn, dass das Verhalten der Europäischen Zentralbank und des Rettungsschirmes ESM natürlich auch ein Demokratieproblem darstellten.
De Maart

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