Dienstag18. November 2025

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Zweiter Tag des Bommeleeër-ProzessesWie funktioniert das Gedächtnis – und wann lässt es uns im Stich?

Zweiter Tag des Bommeleeër-Prozesses / Wie funktioniert das Gedächtnis – und wann lässt es uns im Stich?
Damals Zeuge, heute angeklagt: Marcel Weydert, hier beim Bommeleeër-Prozess im Januar 2014 Foto: Didier Sylvestre/Editpress-Archiv

Am zweiten Tag des Gerichtsverfahrens um zahlreiche Falschaussagen von Zeugen im Bommeleeër-Prozess steht die Erinnerung im Vordergrund. Außerdem berichtete der leitende Ermittler der Kriminalpolizei, dass die Aussagen der Angeklagten teils widersprüchlich und teils falsch gewesen seien.

Das Lernen, die Lernprozesse und die Lernfähigkeiten vom Schul- bis ins Erwachsenenalter sei ihr Forschungsbereich, aber auch das Gedächtnis und die Erinnerung, erklärte Christine Schilz, Professorin für kognitive Neurowissenschaft an der Universität Luxemburg, die als Expertin in den Zeugenstand gerufen war. Denn um das Gedächtnis und nicht zuletzt um falsche Erinnerung geht es in dem Prozess gegen sechs Angeklagte, denen Falschaussagen im Bommeleeër-Prozess 2014 vorgeworfen werden.

Dass der Mensch bereits etwa im 30. Lebensjahr an seinem Maximum der kognitiven Fähigkeiten angelangt ist und danach diese wieder allmählich nachlassen, haben Studien ergeben. Dass Letzteres sogar ab 24 Jahren der Fall sein kann, zeigen jüngere Untersuchungen von kanadischen Forschern und vom deutschen Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Und dass nach 20 Jahren zwei Drittel der Erinnerung mit 40 Jahren nicht mehr zugänglich seien. Allerdings liegen nur wenige Langzeitstudien vor, die zeigen, wie viel ein Mensch im Lauf der Zeit vergisst. Sicher ist, dass unsere Erinnerung uns gelegentlich ein Schnippchen schlägt.

Darauf macht die Expertin von der Universität Luxemburg aufmerksam, die von Me Roland Assa, dem Verteidiger eines der Angeklagten, dem früheren Polizeigeneraldirektor Pierre Reuland, in den Zeugenstand gebeten wurde. Dass es dann ab 60 bis 65 Jahren deutlich weniger einfach ist, Erinnerungen abzurufen, lässt an die sechs Angeklagten denken, von denen der jüngste 65 ist. Es gleicht einem Crashkurs in kognitiven Neurowissenschaften, was am zweiten Tag in der neunten Strafkammer des Luxemburger Bezirksgerichts stattfindet. Dabei geht es doch vor allem darum, wie es möglich ist, sich nach einem Zeitraum von 30 bis 40 Jahren überhaupt noch an etwas zu erinnern.

Falsche und richtige Erinnerung

„Dabei behält man Positives weniger gut im Gedächtnis als Negatives“, erklärt Schiltz. So prägen sich belastende Momente besonders gut ein. „Es gibt aber auch Leute, die sich an alles erinnern können“, sagt die Forscherin, „aber dabei handelt es sich schon mehr um eine Dysfunktion.“ Ob mit der Zeit eine falsche Erinnerung aufgebaut werden könne, will Me Assa wissen. Er weist auf den deutschen Rechtspsychologen Max Steller hin, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung einmal „den besten menschlichen Lügendetektor Deutschlands“ genannt hat, dem aber die Bezeichnung „Wahrheitsdetektor“ lieber ist. In einem Spiegel-Interview Ende September sprach Steller von „falschen Erinnerungen“ und davon, wie sie antrainiert werden können und wie Erinnerungen täuschen können.

Während also dem Langzeitgedächtnis sowieso nicht zu trauen ist, kann selbst das Kurzzeitgedächtnis täuschen. Dies hält nur 30 Sekunden. In der Psychologie wird in manchen Fällen vom „Türschwelleneffekt“ gesprochen. Auf die Frage der Vorsitzenden Richterin, ob es aber möglich sei, dass man etwas nach 30 Jahren Erinnertes nicht mehr in den richtigen Kontext setzen könne, antwortete die Wissenschaftlerin im Zeugenstand mit „absolut“. Erinnerungen verändern sich schließlich. Auch können Anreize der Erinnerung auf die Sprünge helfen. Dazu bedarf es jedoch Indikatoren, die damit in Zusammenhang stehen. Einer der Verteidiger will wissen, ob sich jemand besser erinnern kann, wenn es um die Observation des früheren Vorgesetzten geht. „Ich würde nie sagen: Ich muss mich an etwas erinnern“, so die Expertin. Schließlich geht es nicht nur um Erinnern, sondern auch um Vergessen. Und auch die steht im aktuellen Prozess im Vordergrund.

Die deutsch-kanadische Kriminalpsychologin Julia Shaw, die Me Assa nennt, zeigt in ihrem Buch „Das trügerische Gedächtnis“, dass eine falsche Erinnerung keine Lüge sei, eher eine unabsichtliche Fälschung. Für die betroffene Person kann sie die Wahrheit sein. Bei einem Experiment trichterte Shaw Probanden ein, sie hätten als Kinder Straftaten begangen, schwerwiegende wie Diebstahl oder Totschlag. Bis für 70 Prozent der Versuchspersonen die eingepflanzten Erinnerungen zur eigenen Realität wurden. „Wir pflanzen aus Versehen ganz oft falsche Erinnerungen in unser Gegenüber ein“, erklärt Shaw.

Wer war der Mann auf dem Foto?

Doch erklärt das die „falsche Erinnerung“, die zum Beispiel Marcel Weydert hatte. Der frühere Kriminalpolizist, einst Gründungsmitglied der „Brigade mobile“ der Gendarmerie (BMG) und jetzt Angeklagter, hatte im Bommeleeër-Prozess mehrfach behauptet, in Bezug auf eines der Attentate an den Kasematten, er sei auf einem im Luxemburger Wort 2012 abgedruckten Foto der Mann neben Marc Scheer, Angeklagter im Bommeleeër-Prozess, gewesen. Auf eine Mail von Scheer hin, in dem dieser ihn fragte, ob er der Mann auf dem Foto sei, habe er mit „ja“ geantwortet. Vor Gericht sagte er dann, er habe kein Problem damit gehabt, zu sagen, dass er die Person auf dem Foto gewesen sei. Schließlich stellte sich heraus, dass er zu dem betreffenden Zeitpunkt mit seiner Frau im Italien-Urlaub war und die Person auf dem Foto gar nicht gewesen sein konnte.

Einer der Ermittler schildert ausführlich, was er zur Causa Weydert, dem am Vortag von einem psychiatrischen Gutachter eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung bescheinigt worden ist, zusammengetragen und zu sagen hat. Im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Weydert seien Tausende Dokumente und persönliche Notizen des Polizeibeamten zur Bommeleeër-Affäre gefunden worden. Weyderts Verteidiger Frank Wies weist auf die hohe Fehleranfälligkeit der Überprüfung des Wahrheitsgehalts einer Aussage hin. Wie aber die neurowissenschaftliche Gutachterin betont, könne man „nicht auf dem Scanner überprüfen, ob eine Aussage richtig oder falsch ist“. Die Expertin nennt zudem als weitere einflussreiche Faktoren, bestimmte Emotionen oder ob jemand unter Stress steht, aber auch ob jemand geschult ist, sich etwas einzuprägen und wie sich eine Person an Ereignisse erinnert. Sie hält es zudem für möglich, dass Gespräche mit anderen Personen oder Medienberichte die Erinnerungen beeinflussen.

Schon früh wies vieles auf Insider hin, es wurde aber nicht in diese Richtung ermittelt

Marc Weis, Ermittler in der Bommeleeër-Affäre

Marc Weis, der Erste der Ermittler, die im Zeugenstand auf die einzelnen behaupteten Falschaussagen eingehen sollen, weist darauf hin, dass er 2002 zu der Ermittlergruppe gekommen sei. Schon damals habe er deutliche Missstände festgestellt. Eine richtige Ermittlung habe es nicht gegeben, sie sei bis auf einen Bericht von Spurentechnikern „inexistent“ gewesen. So seien etwa Elemente der Fallanalyse des US-Geheimdienstes CIA weitgehend ignoriert worden und nicht in die Ermittlungen eingeflossen. Die Schlussfolgerungen deuteten schon damals darauf hin, dass die Verdächtigen entweder Insider waren oder zumindest über vertrauliche Informationen verfügten: „Schon früh wies vieles auf Insider hin, es wurde aber nicht in diese Richtung ermittelt.“ Allerdings wurden damals keine diesbezüglichen Ermittlungen durchgeführt. Auch habe ihn „irritiert“, dass die Observation des früheren BMG-Chefs Ben Geiben, der eine Zeitlang als Hauptverdächtiger in der Affäre galt, nach dem Anschlag auf den Justizpalast einfach abgebrochen und nicht fortgesetzt wurde. Weis spricht von einer „markanten Nachlässigkeit“.

Ort des Geschehens: der große Gerichtssaal im Bezirksgericht Luxemburg
Ort des Geschehens: der große Gerichtssaal im Bezirksgericht Luxemburg Foto: Editpress-Archiv