Montag10. November 2025

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Neu im KinoExperimente im Menschsein: Giorgos Lanthimos’ „Bugonia“ und Sergej Loznitsas „Two Prosecutors“

Neu im Kino / Experimente im Menschsein: Giorgos Lanthimos’ „Bugonia“ und Sergej Loznitsas „Two Prosecutors“
Verkörperung von Rationalität und Autorität: Emma Stone spielt in „Bugonia“ eine CEO, die von zwei Männern entführt wird Foto: Atsushi Nishijima/Universal/dpa

„Bugonia“, der neue Film des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos, verwandelt das koreanische Original „Save the Green Planet!“ in ein kühles Kammerspiel über Angst, Macht und Geschlecht. „Two Prosecutors“ des Exil-Russen Sergej Loznitsa erzählt von einem absurden Idealisten im stalinistischen Terror der ausgehenden Dreißigerjahre.

Die Frau als Alien: „Bugonia“

Das Vertrauen in den Menschen ist bei dem griechischen Regisseur Giorgos Lanthimos längst aufgebraucht. Seine Welten sind sauber, leer und präzise – Kino als Labor zur Bespiegelung zeitgeistiger Gesellschaftsdiskurse. „Bugonia“ ist der weitere Eintrag in ein Werk, das seine Irritationen wohl dosiert: Zwei Männer, Teddy (Jesse Plemons) und Don (Aidan Delbis), vereint im Glauben an eine drohende Invasion, entführen eine erfolgreiche Unternehmerin (Emma Stone). Überzeugt, sie sei eine außerirdische Bedrohung, sperren sie sie in ein abgelegenes Haus, um die „Menschheit zu retten“. Zwischen misogynem Wahn, absurder Komik und nihilistischem Grauen entfaltet sich ein Geflecht aus Abhängigkeit und Machtfantasien, das bald in sich zusammenbricht.

Was im koreanischen Original „Save the Green Planet!“ (2003) als anarchischer Exzess aus Schuld, Liebe und Wahn tobt, verwandelt Lanthimos in ein kühles, experimentelles Tableau. Die Räume sind steril, die Kamera unbeweglich, die Körper in geometrische Formationen gezwängt. Die Figuren wirken tatsächlich wie Insekten im Glas. Doch in dieser Versuchsanordnung verschiebt sich das Machtzentrum – und hier liegt die entscheidende Neuerung des Films: Mit der Umkehr des Geschlechts der vermeintlichen Opferfigur führt Lanthimos eine folgenreiche Änderung ein. Aus dem männlichen Unternehmer des Originals wird eine kontrollierte, strategische Frau. Emma Stones CEO verkörpert Rationalität und Autorität – jene Qualitäten, die ihre Entführer als Bedrohung erleben. Der Film zeigt, wie schnell männliche Angst in Gewalt umschlägt, sobald sich Macht in weiblicher Form zeigt. Doch je länger die Gefangenschaft dauert, desto stärker kippt die Situation: Die Frau nutzt die Risse zwischen ihren Peinigern, spiegelt ihnen ihre Ohnmacht zurück. Was als paranoide Verschwörung beginnt, verwandelt sich in eine Auseinandersetzung über Macht, Geschlecht und Glauben.

Ein Nihilist im eigentlichen Sinn

Emma Stone ist die Muse dieses Regisseurs. Seit „The Favourite“ (2018) formt Lanthimos mit ihr einen Frauentypus, der meist als Projektionsflächen männlicher Begierde oder Angst funktioniert. In „Poor Things“ (2023) entwickeln beide eine feministische Erzählung über Selbstbestimmung, Begehren und gesellschaftliche Normen: die Befreiung der Frau als Spektakel und als Produkt – schön, glänzend, marktfähig (siehe Tageblatt vom 19.1.2024).

„Bugonia“ ist erneut ein kalter, präziser Film, der das emotionale Chaos des Originals in kontrollierte Formen zwingt. Lanthimos untersucht die Mechanik des Glaubens und der Macht mit der Genauigkeit eines Biologen. Lanthimos ist ein Nihilist im eigentlichen Sinn: Er glaubt nicht mehr an den Menschen. In seinen Filmen existiert kein moralisches Zentrum, keine Hoffnung auf Läuterung oder Einsicht. Der Mensch erscheint darin als triebgesteuertes, manipulierbares Wesen, unfähig zu Empathie und Erkenntnis – ein Tier, das nur gelernt hat, sich selbst zu beobachten. Seine Figuren handeln nicht aus Gefühl, sondern aus Systemzwang: Sie lieben, weil es vorgeschrieben ist, sie gehorchen, weil sie es nicht anders kennen. Das Humane ist bei Lanthimos längst ein Restposten, eine biologische Anomalie, die bald getilgt sein wird. Aus dieser Haltung bezieht sein Kino seine Kälte. Lanthimos’ Blick auf den Menschen ist von einer eigentümlichen Verachtung geprägt, die sich hinter makelloser Form und kaltem Witz verbirgt. Sein Humor ist grausam, seine Ironie selbstgefällig – ein Lächeln über das Scheitern der Spezies. So kann am Ende von „Bugonia“ zu den Klängen von Marlene Dietrichs „Where have all the Flowers gone?“ nur die Apokalypse stehen. Nicht als Warnung, nicht als Kommentar, sondern als Ausdruck von Gleichgültigkeit.


Glaubt noch an die Idee des sozialistischen Rechts: Aleksandr Kuznetsov als Staatsanwalt Kornev
Glaubt noch an die Idee des sozialistischen Rechts: Aleksandr Kuznetsov als Staatsanwalt Kornev  Foto: Pyramide Films

Ein Idealist in den Mühlen der Macht: „Two Prosecutors“

In „Two Prosecutors“ führt Sergei Loznitsa sein Kino der moralischen Präzision und historischen Beklemmung an einen neuen Höhepunkt. Der in Minsk geborene, längst im Exil lebende Regisseur blickt erneut in die Archive der Macht und entdeckt darin das Antlitz der Gegenwart. Sein Film spielt im Jahr 1937, auf dem Höhepunkt der Stalin’schen Säuberungen und erzählt von einem jungen Staatsanwalt, der an die Idee des sozialistischen Rechts glaubt – an die Möglichkeit, Gerechtigkeit in einem System zu üben, das längst jede Moral verschlungen hat.

Der Staatsanwalt Kornev (Aleksandr Kuznetsov) erhält zu Beginn eine Akte, die er lieber nicht öffnen sollte: Ein Häftling hat, auf ein Stück Pappe mit Blut geschrieben, um Hilfe gebeten. Von da an verfolgt ihn das Gespenst der Wahrheit. Er sucht den Absender, den alten Bolschewiken Stepniak (Aleksandr Filippenko), ein Mann, der einst das System mitbegründete und nun als Verräter gilt. In diesem Schreiben erhebt Stepniak schwere Vorwürfe: Die Sicherheitsorgane, die NKWD, hätten das Rechtssystem vollständig außer Kraft gesetzt und nutzten die Gefängnisse und Gerichte, um eine ganze ältere Generation von Parteiveteranen zu foltern und zu ermorden – um sie durch eine fanatisch loyale, aber unreife und unfähige Schicht von Stalin-Anhängern zu ersetzen. Kornev reist in die Provinz, befragt Behörden. Was als Pflichtgefühl beginnt, wird zu einem moralischen Fieber: Er will wissen – und erkennt, dass seine Fragen selbst schon Schuld bedeuten. In Moskau versucht er, beim Generalstaatsanwalt Vyshinsky (Anatoliy Beliy) Gehör zu finden, doch der Glaube an Gerechtigkeit schlägt in Erkenntnis um: Wahrheit ist im Totalitarismus ein Verbrechen.

Der Dissident als kühler Chronist

Loznitsa erzählt das mit der kühlen Distanz eines Chronisten, immer wieder von einem sarkastischen Zynismus durchzogen, der dem Film zu einer bizarren Kurzweiligkeit verhilft. Wie schon in früheren Werken beobachtet der Regisseur Menschen, die in den Mühlen der Macht verschwinden. Seine Kamera bleibt unbewegt, die Räume sind grau, die Gesichter blass wie ausgetrocknete Masken. Der Prozess wird zum eigentlichen Protagonisten und die Parallelen zu Kafka liegen offen zutage: Kornev ist ein Verwandter von K aus „Der Prozess“, ein Mann, der an der Vernunft verzweifelt, weil sie in Wahnsinn umgeschlagen ist. Im Abspann setzt der „Song of the Counterplan“ ein – jene Melodie, die Dmitri Schostakowitsch 1932 für den sowjetischen Film „Counterplan“ komponierte, mit Text von Boris Kornilov. Einst war sie eine Hymne auf den sozialistischen Fortschritt, ein Versprechen des neuen Menschen. Bei Loznitsa erklingt sie als bitter-ironische Klangfolie, die das ganze ideologische Pathos in sich zusammenfallen lässt. Das Lied, das einst den Aufbruch besang, begleitet nun das moralische Trümmerfeld. Es lässt den Zuschauer zurück mit einem sarkastischen Echo jener Begeisterung, die in Gewalt und Selbsttäuschung mündete – und die Loznitsa mit kühlem, zynischem Blick betrachtet, als sähe er die Gespenster der Geschichte beim nächsten Aufmarsch.

Loznitsa, der seit Jahren als dissidenter Chronist des postsowjetischen Raums gilt und sich nach Russlands Angriff auf die Ukraine offen gegen Putins Regime stellte, inszeniert den Stalinismus als Frühform des autoritären Apparats, der bis heute fortlebt – all das verweist über das Historische hinaus auf das gegenwärtige Russland, auf ein Land, das wieder lernt, Angst als Ordnung zu begreifen. In der Präzision seiner Bilder, in der Trostlosigkeit seiner Räume formuliert Loznitsa eine Warnung. „Two Prosecutors“ ist das Porträt eines Mannes, der Gerechtigkeit sucht und die Wahrheit findet, nur um beides zu verlieren. Ein Werk von eisiger Klarheit und politischer Dringlichkeit.