Freitag28. November 2025

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MarokkoJugendproteste eskalieren: Tote, Verletzte und brennende Polizeiautos

Marokko / Jugendproteste eskalieren: Tote, Verletzte und brennende Polizeiautos
In der nordmarokkanischen Stadt Salé brennt eine Bankfiliale am Rande von Protesten gegen die Regierung Foto: AFP/Abdel Majid Bziouat

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Während Marokko Milliarden in die Fußball-WM 2030 pumpt – darunter neue Großstadien und die Modernisierung bestehender Arenen –, beklagen viele Bürger marode Kliniken und ein mangelhaftes Bildungswesen. Das nordafrikanische Land, das 2030 zusammen mit Spanien und Portugal die WM ausrichtet, erlebt gerade die größte regierungskritische Protestwelle seit Jahren, die inzwischen auch von Gewalt begleitet wird: Es gibt Tote und viele Verletzte.

In vielen Städten demonstrieren junge Marokkaner gegen Perspektivlosigkeit und für mehr Investitionen in den Gesundheitssektor, in Schulen und Jobs. „Wir wollen Krankenhäuser, keine Stadien“, skandieren sie. Auch Rufe nach „Freiheit, Würde und Gerechtigkeit“ sind zu hören, ebenso die Forderung nach einem Ende der weit verbreiteten Korruption. Organisiert werden die Kundgebungen vor allem über soziale Medien von der Jugendbewegung „Gen Z 212“ – 212 ist Marokkos Ländervorwahl.

Was abstrakt klingt, hat einen sehr konkreten Auslöser – und der liegt in der medizinischen Versorgung. Die Demonstrierenden ziehen eine direkte Verbindung zwischen den WM-Ausgaben in Milliardenhöhe und der schweren Krise im Gesundheitswesen. Zuletzt sorgte ein Skandal in der Touristenstadt Agadir landesweit für Empörung. Innerhalb einer Woche starben in einem Krankenhaus acht Frauen bei der Entbindung.

Der Fall steht exemplarisch für eklatante Missstände, die Fachleute seit Jahren beklagen: fehlende medizinische Ausrüstung, Personalmangel, lange Wartezeiten. Hinsichtlich des medizinischen Personals pro 1.000 Einwohner liegt Marokko nur bei etwas über einem Drittel des von der Weltgesundheitsorganisation verwendeten Schwellenwerts.

Auf diese Mischung aus Mangel und Frust antwortet nun die Straße – in immer mehr Städten. Seit Tagen gehen in großen Städten wie Rabat, Casablanca, Tanger, Marrakesch oder Meknès Tausende Menschen auf die Straße. Die Sicherheitskräfte treten massiv auf und versuchen, die Proteste mit Massenfestnahmen und mit zunehmender Gewalt aufzulösen.

Große Spannungen im Land

Zuletzt eskalierten die Auseinandersetzungen in mehreren Orten: Mindestens zwei Demonstranten sollen durch Polizeikugeln getötet worden sein, es soll Hunderte von Verletzten geben. Videos zeigen Einsatzfahrzeuge, die mit hoher Geschwindigkeit durch Menschenmengen fahren und dabei offenbar auch Demonstranten überfahren. Wütende Demonstranten griffen die Polizei mit Messern, Molotowcocktails und Steinen an. Mehr als 100 Fahrzeuge der Sicherheitskräfte gingen in Flammen auf, auch Polizeistationen brannten.

Hinter der Wut stehen Zahlen, die vor allem die junge Generation treffen. Die Proteste spiegeln die großen gesellschaftlichen Spannungen in einem Land, in dem viele junge Menschen keine Zukunft sehen und eine Auswanderung nach Europa erwägen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt landesweit deutlich über ein Drittel, in den Städten bei nahezu 50 Prozent; auch Hochschulabsolventen sind überdurchschnittlich betroffen.

Gleichzeitig gilt: Makrodaten hellen die Alltagserfahrung vieler Haushalte kaum auf. Zwar wächst die Wirtschaft des nordafrikanischen Staates, in dem rund 37 Millionen Einwohner leben. Den Prognosen zufolge werden im laufenden Jahr 4 bis 5 Prozent Wachstum erwartet. Doch weite Teile der Bevölkerung profitieren kaum davon. Auf dem Land sind nur knapp drei Viertel der Haushalte ans Wasserleitungsnetz angeschlossen; rund ein Viertel muss weiterhin Brunnen, Quellen oder öffentliche Zapfstellen nutzen. Das durchschnittliche Einkommen entspricht pro Kopf rund 170 bis 180 Euro im Monat.

Regierungschef Aziz Akhannouch weist den Vorwurf zurück, die WM-Projekte gingen zulasten von Gesundheit und Bildung. Die Regierung in Rabat plant in den kommenden Jahren Infrastrukturinvestitionen von schätzungsweise 38 Milliarden US-Dollar – ein großer Teil davon steht im Zusammenhang mit der WM 2030. Man setze darauf, dass die Infrastruktur rund um die WM Wachstum und Modernisierung befördere, heißt es.

Der König gibt den Ton an

Fakt ist: Die WM-Vorbereitungen laufen mit hohem Tempo – sichtbar vor allem an den Stadien. Insgesamt sollen sechs Fußballstadien neu gebaut, rekonstruiert oder umfassend modernisiert werden: Die größte Arena – das Grand Stade Hassan II im Großraum Casablanca – ist mit rund 115.000 Plätzen geplant und soll zu den größten Stadien der Welt zählen. In Rabat wird das alte Stadion abgerissen und neu gebaut; die Arenen in Tanger, Fès, Marrakesch und Agadir werden aufwendig modernisiert. Dazu kommen Investitionen in Flughäfen, Zufahrtsstraßen und Hotels.

Politisch präsentiert der Königspalast die WM 2030, die zusammen mit Spanien und Portugal organisiert wird, als nationales Modernisierungsprojekt: König Mohammed VI. sieht darin die Chance, das Land voranzubringen und Brücken zwischen Afrika und Europa zu schlagen. In seiner Thronrede im Sommer 2025 mahnte er, es dürfe „kein Marokko der zwei Geschwindigkeiten“ geben; der Fortschritt müsse allen Bürgern zugutekommen.

Am Ende gibt in Marokko der Palast die Richtung vor. Auch wenn die Tagesgeschäfte des Landes von Premier Akhannouch geführt werden, bestimmt der König als geistliches und weltliches Staatsoberhaupt die strategischen Leitlinien.

Man wird sehen, ob die Protestparole „Krankenhäuser statt Stadien“ verhallt oder tatsächlich in konkrete Zusagen mündet. Dazu müssten Regierung und Königshaus spürbar die Prioritäten zugunsten von Gesundheit, Bildung und Beschäftigung verschieben. Gelingt das, könnte die WM 2030 tatsächlich zum Brückenprojekt werden. Bleibt es bei Symbolen, dürfte die Ungeduld der jungen Generation wachsen.