Tageblatt: Herr Becker, Sie organisieren seit Jahren den Ostermarsch in Luxemburg. Wie steht es um den Frieden im Jahr 2025?
Raymond Becker: Wir sind in einer ganz gefährlichen Situation. An vielen Orten werden Diskussionen hysterisch geführt. Dass Gefahren bestehen, ist richtig. Aber trotz alledem sollte man von Zeit zu Zeit Luft holen und auf Basis von Fakten diskutieren. Um den Frieden steht es weltweit schlecht, das muss man so sagen. Wir haben die Ukraine, den Nahen Osten, Gaza und das Westjordanland, Kongo und den Sudan. Man sagt das immer so, aber: Dieses Jahr ist es wichtiger denn je, für den Frieden zu demonstrieren. Die Stimme des Friedens darf nicht verloren gehen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, wo in diesem Kontext hysterisch und nicht faktenbasiert diskutiert wird?
Wenn ich einigen Militärhistorikern zuhöre, die Sätze sagen wie: „Dieser Sommer ist der letzte Sommer in Freiheit“, wenn ich Prognosen von Leuten höre, wann Russland auf NATO-Gebiet im Baltikum einfallen wird, dann stelle ich mir ein paar Fragen. Ich diskutiere nicht, dass Putins Krieg ein aggressiver Angriffskrieg ist, der Menschenrechte verletzt. Putin wird zu Recht vom Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen per Haftbefehl gesucht. Trotz allem sind ein Angriff auf die NATO und ein Angriff auf die Ukraine zwei verschiedene Paar Schuhe. Was ich mit faktenbasiert meine: Schauen wir zum Beispiel den letzten Bericht des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London an, ein weltweit anerkanntes Institut. Was sagen die? Die sagen, dass die NATO sogar ohne die USA Russland in den allermeisten Komponenten überlegen ist. Sie sagen auch, dass es Schwierigkeiten gibt. Das ist okay, das muss man diskutieren. Zum Beispiel bei der Koordination der Länder untereinander. Für mich gilt: Russland ist eine Gefahr – das will ich nicht in Zweifel ziehen. Aber es ist eine beherrschbare Gefahr.
Ihrer Meinung nach überschätzen wir Russland also militärisch und geben zu viel Geld für Aufrüstung aus?
Wir diskutieren Rüstung, Rüstung, Rüstung. Ich bekomme die Nullen bei den Milliarden gar nicht mehr sortiert. Da wird einem schwindelig. Was man zu diesen horrenden Summen sagen muss: Ich habe noch keine Strategie dahinter gesehen. Wir dürfen eines nicht vergessen: Russland hat ein ähnliches Bruttoinlandsprodukt (BIP) wie Italien (2 und 2,3 Billionen US-Dollar, Anm. d. Red.). Selbst ohne die zukünftige Steigerung geben die 32 NATO-Staaten 2024 rund 1,5 Billionen US-Dollar für Verteidigung aus. Russland liegt bei 140 Milliarden.
Was man zu diesem Vergleich jedoch sagen muss: Die zwei Billionen US-Dollar BIP können aufgrund der unterschiedlichen Preise in Russland sehr viel mehr Panzer kaufen als in Italien.
Das ist richtig. Es gibt aber auch Studien, die das mit einrechnen. Noch mal: Russland ist eine Gefahr, ich will das nicht verharmlosen. Aber die 32 NATO-Staaten geben wesentlich mehr aus als Russland. Das ist so. Wir sollten uns vorbereiten, aber mit anderen Mitteln. Ich sehe eine größere Gefahr für die Demokratie. Wir werden von zwei Seiten in die Zange genommen. Cyberangriffe von Russland, das merkt man in den sozialen Netzwerken, wo versucht wird, unsere Demokratie ins Wackeln zu bringen. Das sieht man auch an den Parteien in Europa, die von Russland unterstützt werden. Das ist die eine Seite. Wenn ich sehe, was im Moment in den USA passiert, das sind faschistoide Richtungen, die da eingeschlagen werden. Das muss man so nennen. Dieser Gefahr muss man sich auch bewusst sein.
Wenn europäische Spitzenpolitiker über Sicherheitsgarantien für die Ukraine sprechen, verstärkt das dann Ihrer Meinung nach diese prekäre Situation für die Demokratie?
Worüber wir nicht diskutieren sollten: Es wird zu einem Friedensabkommen in der Ukraine kommen. Heute sind keine Konflikte mehr militärisch zu lösen. Das geht nur auf diplomatischem Weg. Das ist die eine Sache. Das andere: Dieser Frieden muss in einer Übergangsphase abgesichert werden. Ich habe ein bisschen Bauchschmerzen, wenn die Franzosen und Engländer vorpreschen: Wir stellen die Soldaten. Ich bin eher der Meinung, dass man dafür die Vereinten Nationen anrufen sollte. UNO-Friedenstruppen aus verschiedenen Ländern, auch aus BRICS-Staaten, das ist nicht unwichtig.
Ich bin kein Pazifist. Ich berufe mich auf die Charta der Vereinten Nationen.
Sie haben eben gesagt: Die Stimme des Friedens darf nicht verloren gehen. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima werden Pazifisten immer öfter als naive Idealisten oder gar Russlandversteher kritisiert.
Um eines klarzustellen: Ich bin kein Pazifist. Ich berufe mich auf die Charta der Vereinten Nationen. Das bedeutet, ein Land hat ein Selbstverteidigungsrecht und auch das Recht, bei dieser Selbstverteidigung Hilfe von anderen Ländern zu bekommen. In diesem Sinne bin ich kein Pazifist, ich bin ein friedensbewegter Mensch. Das ist ein Unterschied. Pazifismus hatte immer unterschiedliche Strömungen. Es sind ja nicht nur Leute, die die linke Wange hinhalten, wenn sie auf die rechte geschlagen werden. Was ich schrecklich finde, ist, dass wir es nicht mehr fertig bekommen, seriös miteinander zu diskutieren, wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Und dann als Putinversteher oder so etwas hingestellt wird. Dass man nicht mehr Argumente austauschen kann, sondern dass direkt der dicke Hammer ausgepackt wird.
Welche Zukunft hat die Friedensbewegung in diesen Zeiten noch?
Ich sag das mal provokativ: Ich bin der Meinung, dass sich die Friedensbewegung neu definieren muss. Sicher ist es wichtig, dass man immer noch weiter über Atomwaffen und Rüstung diskutiert. Atomwaffen sind die Waffengattung, die für die Vereinten Nationen die allererste Priorität hat, wenn es um Abrüstung geht. Das ist eine Urdiskussion der Friedensbewegung. Was ich nicht mehr gut vertrage, und das mag vielleicht an meinem Alter liegen, ist, wenn zu viel mit Schlagwörtern um sich geworfen wird. Zum Beispiel: Raus aus der NATO. Als friedensbewegter Mensch bin ich der Meinung, dass wir irgendwann als Menschheit ohne Militärbündnisse auskommen müssen. Das ist ja ein Ziel, das man sich setzt. Dass man als Friedensbewegung daran arbeitet, dass das zum Hundertjährigen der Vereinten Nationen 2045 ein bisschen näher rückt. Diesen Weg muss man als Friedensbewegung klarer beschreiten. Dafür reichen Schlagwörter nicht aus. Wir brauchen, um das zu erreichen, Verträge und vertrauensbildende Maßnahmen. Verträge wie den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty zwischen den USA und der Sowjetunion, Anm. d. Red.), die wir auf den Müll geworfen haben. Diese Sachen müssen wieder verhandelt werden, damit man in eine Richtung kommt, in der es Schritt für Schritt zu Entspannung kommen kann.
Wie kann die Friedensbewegung in diese Richtung arbeiten?
Da muss die Friedensbewegung meiner Meinung klarer sein. Sie muss sich auch Gedanken machen, was Sicherheitspolitik heute und morgen bedeutet. Was ist das? Wir müssen diskutieren: Wie wollen wir in Zukunft unsere Sicherheit garantieren? Was ist in Zukunft Sicherheit? Sicherheit ist nicht nur militärisch. Wenn wir über die Milliarden sprechen, die jetzt investiert werden: Wo fehlen die Ressourcen, die jetzt in die Verteidigung gesteckt werden? Bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe. Da redet kein Mensch mehr drüber. Wir müssen Sicherheitspolitik weiter fassen. Sicherheitspolitik in unserem Nord-Süd-Verhältnis. Da spielt Migration eine Rolle. Sicherheit bedeutet auch, dass wir in unseren Gesellschaften hier den Hass abbauen. Sicherheitspolitik ist das Zusammenspiel von einer ganzen Reihe von Dingen, die auch die Friedensbewegung zusammen mit anderen angehen muss.
De Maart

"Heute sind keine Konflikte mehr militärisch zu lösen." Wissen das die Narzissten in Moskau, Washington, Peking und Pjöngjang?
Was den Wert von UN Friedenstruppen angeht , davon konnten wir uns rezent im Libanon ueberzeugen . Ein US Sicherheitsberater verglich sie einmal mit einer Polizeipatrouille die nie aus dem Auto steigt .
@ JJ Das SED Regime ist nicht von irgendwelchen Montagsdemonstranten zu Fall gebracht worden , sondern Gorbartschow machte einen Kassensturz und dann wusste er was die Stunde geschlagen hat .
Und jährlich grüßt das Murmeltier und die Blase wird unterkühlt während die Drahtzieher gemütlich zu Tisch sitzen. Aber die DDR-Bürger haben bewiesen dass das Volk schon eine gewisse Macht hat.Vorausgesetzt es hat die nötige Unterstützung von oben und damit ist nicht der liebe Gott gemeint.Der ist scheinbar ganzjährig anderwärtig beschäftigt. Auch er muss sich scheinbar "neu definieren".
Die realistischen Einschätzungen von Raymond Becker kann ich weitestgehend teilen und möchte deshalb jede und jeden zur Unterstützung der Friedensbewegung aufrufen.
In einer Zeit des Militarisierungswahns sind Friedensbewegungen wichtiger denn je, alle Menschen, denen am Frieden gelegen ist, sollten sich überlegen, wie sie sich ihren Möglichkeiten entsprechend einbringen können.